Nachbarschaft
Veröffentlicht am 01.03.2023 von Lisa Erzsa Weil

Am Campus Hannah Höch (Finsterwalder Straße 52-56) im Märkischen Viertel besuchen aktuell insgesamt 24 Kinder zwei Willkommensklassen. Sie kommen aus der Ukraine, Syrien, Afghanistan, Rumänien und Kirgistan. „Die meisten Willkommenskinder sind geflüchtet, das ist jedoch keine Bedingung“, erklärt Lehrerin Svetlana Poznyak. „Es reicht, wenn ihre Deutschkenntnisse nicht ausreichen“, ergänzt Schulleiterin Viola Ristow. Hier sprechen wir mit beiden über die Relevanz der Willkommensklassen an der Gemeinschaftsschule.
Auf dem Foto oben steht Viola Ristow (rechts) vor ihrem Lieblingskunstwerk am Campus Hannah Höch. Ristow ist seit fünf Jahren Schulleiterin an der Gemeinschaftsschule. Die Willkommensklassen gibt es am Campus Hannah Höch bereits seit dem Syrienkrieg. „Nach Abnahme des Flüchtlingsstromes hat der Bedarf nachgelassen“, erzählt Ristow. „Als der Ukrainekrieg ausbrach und ich sah, dass viele Mütter mit Kindern in Berlin ankommen, dachte ich mir: Hier könnte wieder ein Ort der Beschulung sein.“ Nach Absprache mit der Schulaufsicht kam dann grünes Licht.
„Ich bin selbst vor 20 Jahren nach Deutschland gekommen, allerdings selbst gewählt. Trotzdem weiß ich, wie es sich anfühlt, niemanden zu verstehen und von vorn anfangen zu müssen“, erklärt Svetlana Poznyak (auf dem Foto links). Die ausgebildete Lehrerin und Sozialpädagogin arbeitet seit einem halben Jahr gemeinsam mit drei Team-Kolleginnen in den Willkommensklassen an der Gemeinschaftsschule. Poznyak stammt aus einer Stadt nahe der ukrainischen Grenze, sie selbst hat Freunde und Familie in der Ukraine.
Der Campus Hannah Höch hat nun seit Sommer 2022 zwei Willkommensklassen: für die Grundstufe (1. bis 6. Klasse) sowie die Mittelstufe (7. bis 10.). Am Campus Hannah Höch ist jahrgangsübergreifendes Lernen Teil des Schulkonzepts. Deshalb werden die Kinder in der Grundstufe von Anfang an Lerngruppen zugeteilt, mit denen Kooperationen gebildet werden. In diesen gibt es Patinnen und Paten – mehrsprachige Schüler:innen, die als Übersetzer:innen von Kultur und Sprache agieren. Das helfe den Willkommenskindern, sich schnell mithilfe eines Gruppensystems ins deutsche „Sprachbad“, wie es Ristow nennt, zu integrieren.
Insgesamt 36 Wochenstunden werden für Grund- und Mittelstufe für die deutsche Sprachförderung zur Verfügung gestellt, 16 Stunden für andere Fächer (Mathematik, Sport, Musik, Englisch). Die Willkommenskinder in der Mittelstufe haben eine eigene Gruppe und erhalten intensive DaZ-Förderung (Deutsch als Zweitsprache) sowie Fachunterricht in der Kernzeit zwischen 8 und 12:40 Uhr. In Gruppen wird dann auch der Wortschatz mit Liedern und Übungen trainiert.
„Manche Kinder erleben am Anfang Überforderung“, sagt Poznyak. „Sie sind gerade erst angekommen, wissen teils noch gar nicht, wie lange sie hier bleiben werden.“ Es gebe auch solche, die die Buchstaben noch nicht beherrschten oder noch nicht lesen könnten. Dennoch tue es ihnen gut, in den Willkommensklassen zu sein und Ablenkung zu erfahren.
Poznyak versucht, den ukrainischen Kindern mit Feingefühl und Routine den Schulalltag zu erleichtern. „In der Willkommensklasse gibt es eine Klangschale. Jeden Morgen darf sie von einem anderen Kind angeläutet werden. Es gibt jeweils eine Liste, wer drankommt“, erklärt die Lehrerin. Und die Kinder warteten immer sehnlichst darauf, endlich an der Reihe zu sein.
„Dann schließen alle die Augen und hören dem Klang zu“, berichtet Poznyak. „Und wenn der Klang vorbei ist, dürfen die Kinder nicht mehr Russisch sprechen und müssen sich melden, wenn sie etwas sagen wollen. Das mussten wir üben, denn das Schulsystem ist hier in Deutschland sehr frei, für viele ukrainischen Kinder ist es anfangs schwer, sich zu konzentrieren.“ Dann startet der Tag mit allgemeinen Fragen: Wie geht’s, wie ist das Wetter?
Neben dem Unterricht gebe es auch praktische Übungen in Werkstätten, beispielsweise Kochen, in denen auch Geschwister, die sonst in unterschiedlichen Klassen sind, zusammenkommen können. Das sei für manche besonders wichtig, erklärt Ristow. „Wir haben beispielsweise fünf syrische Geschwister an der Schule, von denen der Älteste, ein 16-Jähriger, quasi das Familien-Management übernimmt.“
Ab und zu geht es auch auf Ausflüge mit den Willkommenskindern. „Wir finden es wichtig, auch über den Tellerrand hinauszuschauen und den Kindern Berlin zu zeigen“, sagt die Schulleiterin. Die Klassen waren zum Beispiel schon beim Fernsehturm oder auf dem Tempelhofer Feld. „Das sind die wertvollsten Tage“, sagt Poznyak und ergänzt vorfreudig: „Nächstes Mal gehen wir Schlittschuhlaufen!“
Auch wenn die Forderung, auf Deutsch zu sprechen, wichtig für den Lerneffekt sei: gerade bei den Jüngeren ist Poznyak wohlwollend, wenn sie sich einmal in ihrer Sprache unterhalten wollen. „Manche der ukrainischen Kinder fühlen sich nicht wertvoll genug, weil sie die Sprache noch nicht beherrschen und sich nicht ausdrücken können. So ging es mir auch vor 20 Jahren“, sagt die Lehrerin. Gerade Konflikte würden die Kinder oft lieber in ihrer eigenen Sprache besprechen – „und das ist auch gut so, wenn sie sonst nicht rauskämen.“ Poznyak selbst versuche dann zuzuhören, Brücken zu bauen.
War es für sie als Russin auch mal schwer, zu den Kindern aus der Ukraine Vertrauen aufzubauen? „Ich weiß noch, wie mich am ersten Tag diese Augen vor dem Sekretariat anschauten: Die kleinen Kinder waren verängstigt, die Eltern besorgt, die größeren Kinder haben sich verschlossen,“ erinnert sich Poznyak. „Ich habe sie dann in ihrer dortigen Gefühlslage abgeholt und war überrascht, wie offen sie waren und dass eine vollwertige Kommunikation mit den Kindern möglich war.“
Manche ukrainische Kinder in den Willkommensklassen seien bereits unter russischer Besatzung aufgewachsen, sprächen gar kein Ukrainisch. „Ein Kind fragte mich deshalb, ‚warum fragen mich alle, ob ich aus Russland oder der Ukraine komme?‘“, sagt die Lehrerin. Denn wir erinnern uns: Die ukrainische Halbinsel Krim wurde bereits im Frühjahr 2014 von Russland annektiert.
Dass Poznyak anfangs nicht mit allen Kindern in der gleichen Sprache sprechen kann, sei nicht schlimm. „Wichtiger ist es, dass ich spüre, wie es den Kindern geht, ihnen in die Augen blicke. Das sollten alle Menschen tun: Nicht nur reden, sondern in die Augen schauen und fühlen.“ Ein Kind aus Syrien habe ihr einmal völlig überraschend, nach langer Zeit ohne viel direkte Kommunikation, gesagt: „Du bist mein Habibi!“, berichtet Poznyak lächelnd. Das arabische Wort bezeichnet Freundinnen, Freunde und liebgewordene Menschen.
„Die Kinder in unseren Willkommensklassen haben viel durchgemacht. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, wie viel sie leisten“, sagt Poznyak. Trotzdem lege sie den Fokus nicht darauf, dass die meisten Geflüchtete sind. „Ich will den Kindern, die alle unterschiedlich sind, die Chance geben, ganz normal zu sein, ihre eigenen Bedürfnisse zu äußern.“
Das Wissen darum, dass manche Kinder Traumata mit sich trügen, sei selbstverständlich da. „Das sieht man nicht unbedingt auf der Oberfläche, aber ich weiß, dass manche mit der Familie bei der Oma in der Ukraine anrufen, und die Frage ist nicht, wie es ihr geht, sondern ob sie noch lebt“, weiß Poznyak. „In Zukunft würden wir gern die spezialisierten Therapeuten von der Charité in Anspruch nehmen, und wir haben eine Psychologin in der Schule, die ganz fein arbeitet“, erklärt Ristow. „Überhaupt sind wir vorsichtig, beispielsweise bei Feueralarmübungen, damit es nicht zu einer Retraumatisierung kommt.“
Willkommenslehrerin Poznyak fragt die Kinder oft, wie sie sich fühlen. „Nicht nur die Sprache, auch der Umgang miteinander und mit den eigenen Emotionen ist wichtig für sie zu erlernen“, sagt sie. „Ich mag es sehr, mit den Kindern in den Willkommensklassen hier zu arbeiten.“ Und Schulleiterin Ristow antwortet ihr: „Da bist du hier an der richtigen Stelle.“
Am Campus Hannah Höch ist man aktuell noch auf der Suche nach Lernpatinnen und/oder -paten für die ukrainischen Willkommenskinder. Gesucht werden Menschen, die Ukrainisch oder Russisch und Deutsch sprechen und Schüler:innen im Unterricht stundenweise ehrenamtlich unterstützen wollen. Auf der Webseite können Sie sich ein genaueres Bild machen. Bei Interesse können Sie sich telefonisch unter 40899960 melden.
- Foto: Lisa Erzsa Weil
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