Nachbarschaft
Veröffentlicht am 07.08.2024 von Valentin Petri
In trügerischer Idylle ruht in Hermsdorf der Waldsee. Üppiges Grün rankt bis ans Ufer, drumherum verteilen sich die Einfamilienhäuser und Doppelhaushälften. Hier ringen seit mindestens zehn Jahren drei Bürgerinitiativen und das Bezirksamt erbittert darum, die nach allen Regeln der Kunst verfahrene Verkehrssituation im Viertel zu lösen.
Viele Autofahrer nutzen die Schildower Straße und den Hermsdorfer Damm südlich des Sees als Schleichweg, um vom brandenburgischen Glienicke/Nordbahn nach Reinickendorf oder umgekehrt ins Berliner Umland zu kommen. Rund 6.000 sind es am Tag, das ergab vor einigen Jahren ein Gutachten, das das Bezirksamt Reinickendorf in Auftrag gegeben hatte.
Der größte Teil der Autos, je nach Tageszeit bis zu 90 Prozent, sind der Zählung zufolge Durchgangsverkehr, ihr Ziel liegt also außerhalb des Waldseeviertels. Die Fahrt durch die Schildower Straße ist oft schneller als über die Berliner Straße, die als B96 in Hermsdorf von Norden nach Süden Richtung Innenstadt führt.
In Mauerzeiten war das Wohngebiet mit seinen kleinen Nebenstraßen ein Verkehrsidyll. Wie in vielen Orten an der ehemaligen innerdeutschen Grenze nahm der Durchfahrtsverkehr nach der Wiedervereinigung deutlich zu. Schon in den 90ern forderten Anwohner, etwas gegen den Autozuwachs zu unternehmen.
Ihr inoffizieller Wortführer ist heute Michael Ortmann. Der Mathematikprofessor zog mit seiner Familie 2017 ins Waldseeviertel. Schnell wurde er zum Gesicht der „Bürgerinitiative für mehr Verkehrsberuhigung“, die es schon deutlich länger gibt.
„Wir verstehen unter Verkehrsberuhigung eine Reduktion des Durchgangsverkehrs“, erklärt Ortmann das zentrale Anliegen bei einem Spaziergang entlang der Schildower Straße im Frühsommer.
Nach den Schilderungen von Ortmann und seinen Mitstreitern fahren viele der Autos rücksichtslos durch die kleinen Straßen. Nur wenige sollen sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten – im Waldseeviertel gilt flächendeckend Tempo 30.
Über 90 Prozent würden zu schnell fahren, sagt Ortmann und beruft sich auf eine Auswertung von Polizeimessdaten, die er selbst vor einigen Jahren angefertigt hat. Er und seine Mitstreiter wollen die Schildower Straße deshalb für den Durchfahrtsverkehr sperren lassen.
„Ich möchte niemandem das Auto verbieten. Das braucht man auch weiterhin, gerade hier am Stadtrand“, sagt er. Aber bei der Verkehrswende könne man nicht nur auf Anreize setzen. „Wenn Sie ein Möbelstück die Treppe rauftragen, reicht es nicht, wenn nur einer von oben zieht. Es muss auch von unten jemand schieben.“
Ortmann hat kein Problem damit sich unbeliebt zu machen. Es ist inzwischen regelrecht Tradition, dass er sich in der Einwohnerfragestunde zu Beginn jeder BVV-Sitzung einen Schlagabtausch mit der zuständigen Verkehrsstadträtin Julia Schrod-Thiel (CDU) liefert. In Pressemitteilungen wirft er dem Bezirksamt „Rechtsbruch“ und „Bastapolitik“ vor. Sein Auftreten ist auch ein Grund dafür, warum die Grünen ihn nicht offen unterstützen wollen, obwohl sie das Anliegen der Bürgerinitiative inhaltlich teilen.
Nein, ein Dickkopf sei er nicht, erklärt Ortmann auf Nachfrage. Nur mit Beharrlichkeit komme man zum Erfolg. „Ich bin nicht derjenige, der einfach aufgibt. Das liegt am Studium. In der Mathematik lernt man Frustrationstoleranz.“
Im Mai reichten Mitglieder der Initiative mit dem Verkehrswende-Verein Changing Cities gegen das Bezirksamt Klage ein, um die Schließung der Straße gerichtlich durchzusetzen. Poller oder Pflanzenkübel an der Landesgrenze sollen verhindern, dass Autos ins Gebiet einfahren können.
Vor drei Jahren schienen Ortmann und seine Mitstreiter schon fast am Ziel. Die BVV stimmte einstimmig dafür, die Sperrung der Schildower zu erproben.
Das Vorhaben rief die Bürgerinitiative „Offene Nachbarschaft“ auf den Plan. Die Anwohner aus dem Waldseeviertel und benachbarten Glienicke fühlen sich durch die Pollerpläne an die schmerzhaften Zeiten der Teilung erinnert.
Der Ton zwischen den Anwohnern ist heute oft unversöhnlich, miteinander gesprochen wird nur noch wenig. Dafür verschickt jede Seite zu jeder Entwicklung fleißig Pressemitteilungen. Ortmann berichtet, einer seiner Mitstreiter in Glienicke habe mal einen Zettel im Briefkasten gefunden. „Die Straße bleibt offen, du Arschloch!“, soll darauf gestanden haben.
Im persönlichen Gespräch sind die Gemüter weniger erhitzt. „Wir verstehen uns als zusammengewachsene, landesübergreifende Nachbarschaft“, erklärt Bernd Pickel, der im benachbarten Glienicke wohnt und einer der Sprecher der Initiative „Offene Nachbarschaft“ ist. Das könne man nicht einfach durch eine Straßensperrung trennen. Die Darstellung der Initiative um Ortmann halten er und seine Mitstreiter für maßlos übertrieben. Sicher seien einige Autos zu schnell unterwegs, aber das seien einzelne Fahrer.
„Wir haben im Waldseeviertel mehr Verkehr, als wir uns wünschen, aber mit einem Straßenschild wird man das nicht ändern können“, sagt Sprecher Bernd Pickel, der jahrelang mit dem Fahrrad durch die Schildower Straße zur Arbeit fuhr. „Wir sind keine Autolobby“, wehrt sich der frisch gebackene Ruheständler gegen einen Vorwurf, der zuweilen von der Gegenseite kommt.
Die Bürgerinitiative will stattdessen auf Anreize setzen: Mehr ÖPNV, bessere Fahrradwege. Auch mehr Zebrastreifen und eine Verbreiterung der Fahrbahn durch Wegnahme eines Parkstreifens hält Pickel für geeignet, um die Verkehrssicherheit auf der Schildower zu erhöhen.
Mit ihren Forderungen stimmen Pickel und seine Mitstreiter weitgehend mit der Position des Bezirksamtes überein. Die Schildower Straße für die Durchfahrt zu sperren, kommt für Verkehrsstadträtin Julia Schrod-Thiel nicht in Frage. „Die Konsequenz wäre, dass die völlig überlastete B96 noch mehr Autos aufnehmen muss“, erklärt sie.
Zu einer ähnlich lautenden Prognose kamen nach dem BVV-Beschluss im Jahr 2021 die anfangs erwähnten Gutachter, die sich gegen die Pollerlösung aussprachen.
Es folgten diverse Runde Tische mit allen Beteiligten. Das Verkehrsressort im Bezirksamt wechselte nach der Wahl 2021 zu den Grünen. Danach stand zunächst im Raum, aus der Schildower Straße eine Fahrradstraße zu machen, wo die Fahrt mit dem Auto nur noch für Anlieger gestattet wäre.
Der Lösungsansatz scheiterte am Widerstand der Gemeinde Glienicke. Nach brandenburgischer Auffassung gilt auf Fahrradstraßen zwar Vorrang für Drahtesel, Autos dürften aber nach wie vor durchfahren. Ohne eine Zusammenarbeit mit dem Nachbarort wird sich das Verkehrsproblem im Waldseeviertel kaum lösen lassen.
Zudem hätte die BVG im Falle einer Fahrradstraße die Buslinie in der Schildower gekappt, weil die Busse die Radfahrer dort nicht überholen könnten und so Verspätung sammeln würden. Die CDU lehnt unter anderem deshalb grundsätzlich ab, neue Fahrradstraße auszuweisen. Als das Verkehrsressort nach der Wiederholungswahl im letzten Jahr wieder zu den Christdemokraten wechselte, war die Lösung endgültig vom Tisch.
In der Zwischenzeit gründete sich die Bürgerinitiative Nummer drei „gegen den Durchgangsverkehr im Waldseeviertel“. Die Vertreter wachen mit Argusaugen darüber, dass Beruhigungsmaßnahmen in der Schildower Straße nicht dazu führen, dass die Autos sich neue Schleichwege über die Nebenstraßen suchen, die von der vielbefahrenen Piste abzweigen.
Im Ergebnis lässt der Bezirk nach längerer Verzögerung seit Ende Juli die Straße instand setzen. „Alle profitieren von der Sanierung und dem neuen Straßenbelag“, betont Stadträtin Schrod-Thiel. Ziel der Bauarbeiten sei ja gerade, die Straße so aufzubessern, dass der Durchfahrtslärm danach geringer ist.
Ortmann und seine Unterstützer befürchten, dass der frische Asphalt nur noch mehr Autofahrer dazu bringt die Abkürzung durch das Waldseeviertel zu nehmen. Zudem könne die Schildower Straße danach wieder für LKW zugelassen werden, die wegen des schlechten Zustandes dort aktuell nicht fahren dürfen.
Zumindest in diesem Punkt sind sich alle drei Initiativen einig: Laster sollten auch nach Abschluss der Sanierung nicht durchs Waldseeviertel fahren. Zum LKW-Durchfahrtsverbot hält sich die Verkehrsstadträtin bedeckt. „Das ist ein Thema, das wir weiterhin im Fokus haben“, erklärt sie auf Nachfrage.
Ob sie die Verkehrssituation im Waldseeviertel nach den Bauarbeiten Schildower als erledigt betrachtet, lässt Schrod-Thiel offen. „Wir müssen erstmal schauen, wie gut es läuft. Es ist nie auszuschließen, dass man dazulernt.“
Aus Ortmanns Sicht sollen nun die Richter über die Straßensperrung das letzte Wort haben. „Wenn das Gericht, nachdem es alle unsere Argumente gewürdigt hat, in letzter Instanz zu dem Schluss kommt, dass man die Straße nicht sperren kann, akzeptieren wir das auch.“