Kiezkamera

Veröffentlicht am 01.10.2019 von André Görke

35 Jahre U-Bahnhof: Waren Sie bei der Eröffnung dabei? Am 1. Oktober 1984, heute exakt vor 35 Jahren, wurde der U-Bahnhof vor dem Rathaus Spandau mit 1400 geladenen Gästen in Betrieb genommen. Auf dem Bahnsteig: Bezirkschef Werner Salomon, SPD, und der extra aus Bonn eingeflogene Bundeskanzler (!) Helmut Kohl, CDU. Der verewigte sich im Goldenen Buch von Berlin-Spandau – und seit jenem Tag liegt das Zeitdokument unbeachtet in der Schrankwand in der Stube des Bürgermeisters (hier ganz rechts im Bild). Als ich neulich Bezirkschef Helmut Kleebank, SPD, in dessen Büro besuchte und ihm am Rande von Helmut Kohl 1984 erzählte, sprang Kleebank plötzlich auf, wuchtete das Buch aus dem Glasschrank und schleppte den Schinken vorsichtig auf den Schreibtisch. Und dann suchten wir Helmut Kohl. Das Foto sehen Sie oben.

In der allerersten U-Bahn 1984 saß auch Monika Herrmann, die später Bürgermeisterin in Friedrichshain-Kreuzberg werden sollte. Herrmann erinnert sich noch heute: „Ich hatte als Erwachsene einen Garten in Hakenfelde und bin mit der ersten U-Bahn von Rudow nach Spandau gefahren. Wenn in der auch Helmut Kohl war, sind wir gemeinsam nach Spandau gefahren.“ Waren Sie auch Bord? Haben Sie Erinnerungen oder gar Fotos? Meine Mail: spandau@tagesspiegel.de

Die U-Bahn veränderte Spandau. Zehn Jahre wurde gebuddelt – eigentlich hatte man schon 1977 am Falkenseer Platz ankommen wollen (aber auch früher war nicht alles besser). Der 1. Oktober 1984 jedenfalls wurde zum Volksfest. Klar, denn Spandau lag noch weiter in der Peripherie als heute. Der S-Bahnhof Spandau-West war schon seit Jahren verrammelt und verwaist – hier Leserfotos. Ich habe Ihnen mal den Text aus den Tiefen des Tagesspiegel-Archivs hervorgeholt. Viel Spaß!

„U-Bahn in Spandau mit Freibier und Suppe gefeiert“, schrieb mein Kollege Klaus Kurpjuweit im Tagesspiegel 1984. „Obwohl die Gäste dieses Mal Willkommen waren, hielten die Spandauer sie wie im Mittelalter vor dem Betreten der Stadt an der Zitadelle auf: Die Eröffnungszüge der BVG, die mit 1400 geladenen Gästen nebeneinander auf der neuen Strecke zum Rathaus Spandau fuhren, wurden von Mitgliedern der Schützengilde zu Spandau auf dem U-Bahnhof Zitadelle gestoppt. Sie ließen die Weiterfahrt erst zu, nachdem Bezirksbürgermeister Werner Salomon und der Vorsteher der Bezirksverordnetenversammlung, Karl Neugebauer, die von BVG-Direktor Joachim Piefke beantragte ‚Durchfahrtsgenehmigung‘ erteilt hatten.

Für Salomon gab es vor dem Rathaus einen großen Bahnhof — er feierte nämlich nicht nur den Anschluss Spandaus an die U-Bahn-Welt, sondern gleichzeitig seinen 58. Geburtstag. Vorher musste er aber auch an seinem Ehrentag noch „arbeiten“. Gemeinsam mit BVG-Direktor Piefke durchsägte er ein Seil, das die Züge auf dem Bahnhof Zitadelle gestoppt hatte. Anschließend setzten die Premierenzüge die Fahrt bis zum neuen Endbahnhof am Rathaus Spandau fort. Dort gab es nach der Eröffnungsfeier im Bahnhof Freibier und Erbsensuppe. Und dies war dann bald wichtiger als die U-Bahn. 600 Liter waren in einer halben Stunde weggelöffelt. Auch das Bier reichte nicht viel länger.

Wer noch Hunger und Durst hatte, konnte auch auf dem Rathaus-Vorplatz seinen Magen füllen — allerdings gegen einen Obolus. Und das schmeckte nicht allen. Immer wieder hört man aus der Menge rufen: „Und wo ist nun das Freibier?“ Das stundenlange Programm auf der Bühne war für viele nur ein schwacher Trost. Aber es gab ja noch den Stand der BVG, an dem Mitarbeiter Aufkleber und Fähnchen, Luftballons und Bastelbogen unentgeltlich verteilten sowie Plakate verkauften. Und wie fast immer bei solchen Anlässen wurde der Stand fast gestürmt. Am Ende der Schlange wussten die Anstehenden gar nicht, was es vorne gab. Aber sie hielten durch, bis sie einen Aufkleber oder einen Bastelbogen mit nach Hause oder bis zum nächsten Papierkorb nehmen konnten.

Tausende ließen sich nach Spandau fahren, schauten unterwegs die neuen Bahnhöfe an: Den Sternenhimmel unter der Erde an der Paulsternstraße, Haselhorst mit seiner an die umliegende Industrie erinnernde Aluminium-Architektur, den der historischen Architektur nachgebildeten Bahnhof Zitadelle, die dreischiffige weißrote Station Altstadt sowie die repräsentative Station Rathaus mit ihren großen tragenden Stützen, Kapitelle und Leuchten.

Mit Kritik wurde aber nicht gespart. Bürgerinitiativen erinnerten mit Montagen aus BVG-Plakaten an die S-Bahn, die in Spandau weiter vor sich hinrostet, andere forderten Aufzüge für Behinderte und viele sehnten sich nach den Buslinien zurück, die die BVG nach der Eröffnung der U-Bahn eingestellt hat. Auf den Straßen vor dem Rathaus gab es an diesem Tag Chaos.

Helmut Kohl saß im falschen Zug. Dafür konnte die U-Bahn zeigen, wie schnell sie ist: In knapp einer Stunde legt sie die 32,4 Kilometer von Rudow bis Spandau zurück. Bequem war die Fahrt allerdings meist nicht. Die Züge waren oft voll besetzt. Und als der Bundeskanzler im Wagen nach Spandau stand, hieß es gar: „Nichts geht mehr.“ Fahrgäste konnten wegen der Enge im Waggon nicht mehr aussteigen, und auf den Bahnsteigen verhinderten Sicherheitsbeamte ein Einsteigen in den „Kanzler-Wagen“. Kohl war nämlich in den falschen Zug gestiegen. Der für ihn vorgesehene Sonderzug kam zehn Minuten später. So fuhr der Kanzler in einem Linienzug und erfüllte dort Autogrammwünsche. Geplant war stattdessen, dass ihm Lehrlinge von AEG eine selbstgebastelte Sonnenuhr überreichen. Als Kohl dann vor dem Rathaus Hände schüttelte, musste sogar der Verkehr vor dem Platz gesperrt werden, weil die Autogrammjäger einfach über die Straße rannten.“ So war das damals, heute vor 35 Jahren.  –
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Diesen Text haben wir dem neuen Tagesspiegel-Newsletter für Berlin-Spandau entnommen. Den gibt’s in voller Länge (und kostenlos) hier: leute.tagesspiegel.de
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