Namen & Neues
Spandau und das tägliche Verkehrsdilemma
Veröffentlicht am 17.12.2019 von André Görke
Berlin-Spandau und das tägliche Verkehrsdilemma. Weihnachten ist die Zeit der Nähe und des Zusammenrückens? Na dann schöne Grüße in die überfüllten Regionalbahnen, Busse und Straßen! Ein Kommentar zur Lage 2019.
Spandaus Verkehr ist kaum zu ertragen. Verantwortlich? Am Ende Regine Günther, Grüne. Sie ist seit 2016 Verkehrssenatorin, und ihr wird selten Interesse für Stadtrand-Gequengel im wilden Westen nachgesagt. Zur Wahrheit gehört auch: Die Verkehrsprobleme sind älter – 20 Jahre stellte die SPD den Verkehrschef der Stadt, Anfang der 90er die CDU, aber das macht das Heute nicht besser.
Der Menno-Faktor ist hoch. Die Staakener fragen erschöpft nach der S-Bahnverlängerung, die ihnen 1990 versprochen wurde. Der Senat prüft 2020 immerhin in einer „Machbarkeitsstudie“, ob eine U-Bahn nach Heerstraße Nord vielleicht doch nicht so doof ist – 40 Jahre nach dem Bau der Großsiedlung.
Am Radschnellweg an der Heerstraße, der gern als (belächelte) Alternative für Pendler angepriesen wird, taucht leider erst 2023 der erste Bauarbeiter auf.
Die Wasserstadt ist 2025 vollendet – mehr als volle Busse werden dort so schnell nicht rollen. S-Bahn-Verlängerung der Siemensbahn? Vielleicht. Irgendwann. Aber die Entscheidung muss jetzt fallen, sonst landet das Projekt in der Ablage P. So glamourös ist Spandau nicht – es ist der kleinste Bezirk.
Die Nord-Süd-Ader im Straßenverkehr ist so verstopft, dass selbst die Spezialisten im Lynar-Krankenhaus nichts machen können. Hakenfelde quält sich im Stop-and-Go zum nächsten Bahnhof. Die Kladower und Gatower kommen da gar nicht erst an, wenn die BVG ihre Linien mal eben unterbricht, weil eine Mini-Baustelle alles lahmlegt – hier ein Fotobeweis von Leser Sebastian Neumann. Passiert letzte Woche: Da ging es um einen Gas-Anschluss auf der Gatower Straße – kommt vor, kein Drama (und Bezirk und Senat haben nicht mal Anteile daran, sondern die Netzgesellschaft). 20.000 Leute wurden allerdings treudoof in den Stau geschickt.
„Ich brauchte 72 Minuten mit dem Bus bis zur Heerstraße“, schrieben mir Leser aus dem Schnellbus X34. Was für (k)eine Kommunikation! Das muss dringend besser werden, offensiver und transparenter. Aber gute Kommunikation funktioniert nicht nebenbei – das kostet Geld und Personal.
Die Regionalbahn? Da ist leider kein Platz mehr. Besserung war im April versprochen, dann im Herbst – leider hakt es im Dezember immer noch. Verlässlichkeit? Muss hergestellt werden – Ankündigungen, auf die sich keiner verlassen kann, ärgern noch viel mehr. Leser Benjamin Mombree lenkte am Montag den Blick auf Schein-Debatten wie die am Wochenende: „Wie Greta auf dem Boden eines ICE sitzen zu müssen, wäre in der RB10 noch das geringste Übel, liebe Bahn. Wer nicht fast erstickt ist, wurde heute erdrückt.“ Und das ist keine Untertreibung – ich tue mir das auch jeden Tag an: hier der Fotobeweis.
Spandau ist nicht der Nabel der Stadt, aber auch nicht das Ende der Welt. Stadtrat Frank Bewig, CDU, hat recht, wenn er von einem „Transitbezirk“ spricht. Hier müssen Zehntausende durch – aus Potsdam, Havelland, Falkensee. Ach, sorry, es gibt das Schienen-Infrastrukturprojekt i2030? i2020 würde mehr Mut machen. Zehn weitere Jahre Gequetsche ist nicht gut für die Nerven.
Leerer wird’s nicht. Leser Marco Schirmer lenkt jetzt schon den Blick auf die BER-Eröffnung 2020: „Die Leute, die heute als Pendler die überfüllte RB14 nutzen, freuen sich schon auf die zahlreichen neuen Gäste, die auch noch versuchen, ihre Koffer in den Zug zu kriegen.“ Chaotische Szenen spielen sich heute schon am TXL-Aussteigebahnhof Jungfernheide ab. Doch der BER-Zubringer von Spandau soll ab 2025 gestrichen werden – das Gegenteil wäre besser: mehr Direkt-Züge.
Kurze Züge, schwarz auf weiß. Jeden Morgen der bange Blick auf dem Bahnsteig gen Westen: Kommt ein langer Doppelstock-Regio – oder doch wieder nur ein flacher Kurzzug? „Es kann davon ausgegangen werden, dass die Fahrten der RB10 und RB14, die montags bis freitags zwischen 6 und 8 Uhr ab Nauen Richtung Berlin sowie zwischen 16 Uhr 18 Uhr ab Berlin Richtung Nauen mit einer Kapazität von 300 oder weniger Sitzplätzen verkehrten, dazu führten, dass nicht alle Fahrgäste mitgenommen werden konnten.“
Dieser Satz ist eine Offenbarung. Geschrieben hat ihn der VBB an Paul Fresdorf, FDP. In dem Brief listete die Bahn auf 355 (!) Seiten auf, welche Züge zu kurz waren, um alle mit in die Stadt zu nehmen. Manchmal fehlte nur 1 Sitzplatz, erschreckend oft fehlten 280 Sitzplätze – und kein einziges Mal stand da in neun Monaten „0 fehlende Sitzplätze“. Und wenn 280 Sitzplätze fehlen, dann fehlen noch viel mehr Stehplätze im Zug. Jeden Tag. Verlässlichkeit? Auch hier leider Mangelware.
Der Mangel liegt bei der Bahn, die wiederum über Werkstatt-Engpässe klagt und falsche Züge. Darauf verweist der VBB, der vom Senat in die Spur geschickt wird. Auf den wiederum tippt der Bezirk, den die Bürger in die Pflicht nehmen, die allerdings nicht in die überfüllten Züge steigen wollen bzw können und so weiter einzeln in ihren Autos sitzen, die den Stau mitverursachen, in dem dann die BVG-Busse stecken und… wir drehen uns im Kreis, aber können uns in der Bahn nicht mal umdrehen.
Es gibt viel zu tun 2020, 2021, 2022. Und es geht nur mit gemeinsamer politischer Zusammenarbeit, mit Investitionen und Kommunikation – selbst bei schlechten Nachrichten. Es geht nur mit Ortskenntnis und auch mit Rücksichtnahme. Wir sitzen, stehen, fahren alle im gleichen Zug, Stau, Bus, Regio und manchmal sogar im Boot. Nee, schön ist das alles nicht. Aber atmen wir 2020 einmal durch, bevor sich alle gegenseitig wieder vollschimpfen. Und mischen Sie sich weiter konstruktiv ein in Ihren Kiezen und in Debatten mit den Politikern Ihrer Wahl. Es ist Ihr Spandau. – Text: André Görke
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Dieser Text ist zuerst im Tagesspiegel-Newsletter für Berlin-Spandau erschienen. Den gibt es in voller Länge und kostenlos unter leute.tagesspiegel.de.
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