Intro
von Boris Buchholz
Veröffentlicht am 17.09.2020
Da, wo sonst die Pfarrerin den Segen über die Gemeinde spricht, standen am Mittwochnachmittag Tische: Der dreiköpfige Vorstand der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) und die fünf Mitglieder des Bezirksamts, der Bezirksregierung, hatten im Altarraum der Pauluskirche Platz genommen. Das Taufbecken stand hinter Bezirksbürgermeisterin Cerstin Richter-Kotowski (CDU), die Jesus-Figur am Holzkreuz blickte Richtung Jugend- und Gesundheitsstadträtin Carolina Böhm (SPD), direkt über René Rögner-Francke (CDU), Vorsitzender des Südwest-Parlaments, schaute der Messias mit offenen Armen vom Abendmahl mit seinen Jüngern auf und in das Kirchen-, äh, Parlamentsschiff. Weil der Platz für 55 Bezirksverordnete sowie Publikum samt Corona-Abstandsflächen im Bürgersaal, dem größten Raum im Rathaus Zehlendorf, nicht ausreicht, war die BVV in die Pauluskirche auf der anderen Seite der Kirchstraße ausgewichen.
Kirche ist ein Ort voller Geschichte. Die Kirche sollte auch ein Ort für gute Vorbilder, für positive Entwicklungen sein, sie sollte Mut machen und Rückhalt geben. Doch es war vor allem der letzte Punkt der Tagesordnung, der Fragen aufwarf und die Frustrationstoleranz manches Beobachters auf den Prüfstand stellte: Ab 21.30 Uhr wurde die Große Anfrage der Linksfraktion zu der seit 2012 leerstehenden Villa Schmarjestraße behandelt.
Zur Erinnerung: Elisabeth und Martin Mehnert hatten ihr Haus in der Schmarjestraße 14 in den 1980-er Jahren dem Bezirk vermacht. Bis 2012 wirbelten Kinder einer Kita in der Villa umher und spielten im Garten – seitdem steht die Villa Mehnert leer, sie wurde zum Geisterhaus. Bis Ende 2018 setzte sich die Südwest-CDU (allen voran die Bürgermeisterin und der Fraktionschef Torsten Hippe) vehement für einen Verkauf der Villa ein, obwohl die Erblasser eine soziale Nutzung ihres Wohnhauses als Bedingung ins Testament geschrieben hatten. Gegen einen möglichen Verkauf wurde von einem Nacherben der Mehnerts eine einstweilige Verfügung erwirkt – die im Februar 2020 vom Berliner Kammergericht bestätigt wurde.
Im gleichen Monat gab es gute Nachrichten: Mehr als ein Dutzend Vereine und Organisationen hätten sich im Rahmen eines Interessenbekundungsverfahrens im Bezirksamt gemeldet, erklärte mir vor einem halben Jahr Jugendstadträtin Carolina Böhm: Sie alle wollten das Haus, das sich im Fachvermögen des Jugendamts befindet, möglichst bald nutzen. „Mein Interesse ist, dass bis Ostern etwas entschieden wird“, sagte die Stadträtin damals dem Tagesspiegel.
Doch nach dem Interessenbekundungsverfahren ist vor dem Interessenbekundungsverfahren, lernte ich beim jüngsten Besuch in der Kirche. Bürgermeisterin Cerstin Richter-Kotowski berichtete den Lokalpolitikern auf den Kirchenbänken, dass aufgrund der Corona-Pandemie nur einer der beiden Besichtigungstermine vor Ort habe stattfinden können. Seit März hätte es keine weiteren Gespräche mit Interessenten mehr gegeben. Kita, Haus für betagte Musiker, Mehrgenerationen-Treffpunkt – bereits vorgelegte Nutzungskonzepte seien weiter im Rennen, erklärte die Rathauschefin, sie seien „nicht abschließend bewertet und auch nicht verworfen worden“. Aktuell bereite sie mit dem Rechtsamt, der Bauaufsicht und der Denkmalschutzbehörde – Sie werden es erraten haben – ein weiteres Interessensbekundungsverfahren vor.
Wieso, fragte Gerald Bader, der Vorsitzende der Linksfraktion, warum muss ein neues Verfahren her? Er sprach von einer „unendlichen“, von einer „unglaublich peinlichen Geschichte“ und erklärte: „Corona kann für vieles herhalten, aber nicht für alles.“ Eine Antwort erhielt der Linken-Politiker von der Bürgermeisterin nicht. Stattdessen hallte später die Stimme von Torsten Hippe durch den über einhundertjährigen roten Backsteinbau: „Den Leerstand auf das Bezirksamt zu schieben, ist fehlerhaft.“
Interessant war, von wem die Bürgermeisterin in ihrem Statement nicht gesprochen hat. Sie stimme mit dem Rechtsamt, der Bauaufsicht und dem Denkmalschutz ein neues Interessenbekundungsverfahren ab, alle drei Abteilungen gehören zu ihrem eigenen Ressort. Doch was ist mit der SPD-Jugendstadträtin, deren Abteilung die Villa gehört? Was ist mit den Vertragsprofis und Bauexperten des Facility Managements, die für bezirkseigene Gebäude zuständig sind (sie gehören zur Verantwortung von Maren Schellenberg von den Grünen)?
Das mittlere Kirchenfenster im Altarraum der Paulusgemeinde zeugt von Hoffnung. Die Osterbotschaft bricht sich durch die Dunkelheit Bahn, Christus triumphiert über den Tod. Die ewige Villa-Debatte endete an diesem Kirchenabend wenig hoffnungsfroh, sie machte ratlos. Im Februar diesen Jahres schrieb ich nach den ersten Ideen der freien Trägerwelt zur zukünftigen Nutzung des Hauses der Mehnerts (es war mein 15. Bericht zu diesem Thema): „Es könnte sein, dass jetzt der letzte Akt der Villa-Affäre eingeläutet wurde – und das Drama dieses Jahr zu einem guten Ende geführt wird.“ Heute – nach Villa-Text #17 – weiß ich: Zu früh gefreut, das Villa-Leiden geht weiter (das Leiden Christi ist übrigens Thema des rechten Altarbilds). – Text: Boris Buchholz
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Hier meine Themen aus dem aktuellen Tagesspiegel-Newsletter für Steglitz-Zehlendorf -eine Auswahl.
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- Geistervilla bleibt vorerst Geistervilla: Für das Haus in der Schmarjestraße 14 bereitet das Amt ein weiteres Interessenbekundungsverfahren vor
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