Intro
von Boris Buchholz
Veröffentlicht am 12.11.2020
wenn ich morgens an einem normalen Werktag meine festen Wanderschuhe anziehe, zwischen Pullover und Sakko noch eine wattierte Weste schmuggele und die Kollegin von der „Berliner Morgenpost“ ihr Sitzkissen in den Rucksack steckt, ist klar, was auf dem Programm steht: Am Mittwoch, 11. November, traf sich die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) zur November-Sitzung – und zwar wegen Corona wieder in der großen Zehlendorfer Pauluskirche.
Zwar betont Vorsteher René Rögner-Francke bei der Begrüßung am Nachmittag, dass die „Heizung funktioniert“ (tatsächlich, auf der Orgel-Mitarbeiter-Presse-Empore bollern die kleinen Heizkörper an der Brüstung kräftig). Dennoch ist es kalt im parlamentarischen Kirchenschiff. Nicht nur die Beobachter von der Presse haben vorgesorgt: Bürgermeisterin Cerstin Richter-Kotowski (CDU) hat sich ein schwarzes Wollcape mit Fransen übergeworfen. Auch Jugend- und Gesundheitsstadträtin Carolina Böhm (SPD) hüllt sich zusätzlich in Wolle – sie ist in einen breiten grau-weiß-schwarzen Schal gewickelt. René Rögner-Francke trägt unter dem Sakko immerhin einen Pullover, der FDP-Verordnete Kay Ehrhardt zeigt sich ebenso wie sein CDU-Kollege Bernhard Lücke im dick gefederten sportlichen Winteroutfit.
Wir passen uns an die Pandemie an – der parlamentarische Chic heißt heute gelber Strick-Wollpullover (SPD), schwarzer Wintermantel (FDP) und grüner Parka mit Kunstpelzkragen (AfD). Ein grüner Bezirksverordneter berichtet in einer der Lüftungspausen, dass er extra Kniestrümpfe drübergezogen habe. Später leiht Mathia Specht-Habbel, die Vorsitzende der FDP-Fraktion, der frierenden Bürgermeisterin noch eine weiße Fleecedecke. Ehre wem Ehre gebührt: Die beiden männlichen Mitglieder des Bezirksamts, Michael Karnetzki (SPD) und Frank Mückisch (CDU), hielten es bestimmt zwei Drittel der Sitzung in Hemd, Schlips und Kragen aus – meine Vermutung lautet allerdings: Thermounterwäsche.
So ungewöhnlich die Corona-bedingte Mode ist, so ungewöhnlich war auch die Debatte, die sich anlässlich der Großen Anfrage der FDP zur Pandemie ergab. Ihr Titel: „Kontrollverlust des Bezirksamts bei der Covid-19-Bekämpfung?“ (Gleich hier der Spoiler: Einen Kontrollverlust gebe es nicht, erklärte Carolina Böhm; mehr dazu unten). Besonders war die Debatte deshalb, weil die Lokalpolitiker miteinander ins Gespräch kamen – ohne Parteitaktik im Hintergrund, es war ein reger Austausch in der Sache. Ein seltenes Vergnügen.
Die CDU-Verordnete Claudia Wein machte ihrem Herzen Luft: Experten könnten immer nur Teil-Antworten geben, in einer gesellschaftlichen Debatte müsse der zukünftige Umgang mit der Pandemie geklärt werde. Was sei wichtiger: Der staatlich verordnete Schutz vor Ansteckung oder das Recht selber zu entscheiden – und mehr am Leben teilzuhaben? Sie vermutet, dass es das Jahr 2036 schlagen werde, „bis wir durch sind“. Wie sie diese – wie ich finde zu pessimistische – Jahreszahl ermittelte, verriet sie allerdings nicht. Hans-Walter Krause (Linke) beobachtete, dass die Konflikte rund um Covid-19 zunähmen: „Aus Angst heraus zu argumentieren, ist schwierig.“ – „Die Ausschüsse müssen tagen“, forderte Lars Rolle (FDP). Es dürfe nicht sein, dass Sitzungen wegen Corona abgesagt würden, das Lokalparlament sich selber beschneide und nicht mitentscheide – Sitzungen könnten digital übertragen oder gar abgehalten werden, das würden diverse Berliner Bezirke belegen.
„Ich habe ein solches Katastrophenszenario in meinem Leben noch nicht erlebt“, erklärte Gesundheitsstadträtin Carolina Böhm sichtlich bewegt. Deshalb arbeiten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Gesundheitsamts „auch rund um die Uhr“, von Montag bis Sonntag. „Wir werden überrollt“, berichtet sie aus dem Amt; das Ziel des Amts sei es, „wieder vor die Welle zu kommen“. Wie mit dem Virus weiter umgegangen wird, wie sich unsere Welt verändern müsse, sei ein „Aushandlungsprozess“. Doch falle die Reflektion im Gesundheitsamt mitten in der zweiten Infektions-Welle schwer: „Im Augenblick haben wir keine Zeit dafür.“
Einstimmig und „ausdrücklich“ bedankten sich die Bezirksverordneten bei den Mitarbeitern des Gesundheitsamts. In einem entsprechenden Antrag würdigte die Lokalpolitik das große Engagement der Helferinnen und Helfer: „Den Verordneten der BVV ist bewusst, welchen Belastungen sie ausgesetzt sind und welche Herausforderungen sie in den kommenden Wochen und Monaten noch zu meistern haben.“ In dem am Mittwochabend verabschiedeten Antrag fordert die BVV Bezirksamt und Senat auf, dieses Engagement auch finanziell zu würdigen.
Ein seltenes Lob sprach die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen der Gesundheitsstadträtin Carolina Böhm per Pressemitteilung aus: „Sie meistert die herausfordernde Situation zwischen hohen Infektionszahlen, bürokratisch notwendiger Sorgfalt, Kritik pandemieleugnender Bevölkerungsgruppen und besonders nötiger Mitarbeiterführung eigener und externer Kräfte hervorragend.“ Hut – oder besser: Wollmütze – ab!
Boris Buchholz ist in Wilmersdorf und Lankwitz aufgewachsen. Der freiberufliche Journalist und Designer arbeitet in Steglitz und lebt in Zehlendorf – die lokale und globale Politik interessiert ihn, seitdem er im Fichtenberg-Gymnasium die Schulbank drückte. Mehr über Boris Buchholz erfahren Sie auf seiner Website. Wenn Sie Anregungen, Kritik, Wünsche, Tipps haben, schreiben Sie ihm bitte eine E-Mail an boris.buchholz@tagesspiegel.de