Intro
von Boris Buchholz
Veröffentlicht am 12.05.2022
der Säugling fühlte sich recht schwer in meinem Arm an: Bestimmt über vier Kilo, ein netter Kerl, etwas still. Was nicht verwunderlich ist, denn dieses Baby ist eine Puppe – aber eine besondere. Der kleine künstliche Mensch gehört zur Erstausstattung des „Skills Labs“, der Übungsstation der Hebammenwissenschaft an der Evangelischen Hochschule Berlin (EHB), sie liegt in Zehlendorf am Teltower Damm, gegenüber von der John-F.-Kennedy-Schule. Hier, im Skills Lab, sollen die angehenden Hebammen – es sind tatsächlich nur Frauen, die hier studieren – ihr theoretisch erworbenes Wissen in die simulierte Praxis umsetzen. Es gibt einen Untersuchungsraum für erste Gespräche mit der Schwangeren, es gibt ein Wöchnerinnen-Zimmer, es könnte sich in jeder beliebigen Klinik befinden. Auch ein privates Schlafzimmer mit Kinderbett, hier „schlief“ bei meinem Besuch der Säugling, ist vorhanden – Nachsorge zuhause und Still- und Pflegebegleitung gehören zum Job der Geburtshelferinnen.
Zwei Kreißsäle. Kernstück der Station im Erdgeschoss eines der neu sanierten Hochschulgebäude sind die beiden Übungs-Kreißsäle, wie im echten Leben, so sehen sie aus (allerdings speisen sich meine Kreißsaal-Erfahrungen lediglich aus zwei Besuchen, die mit gutem Grund mit etwas zeitlichem Abstand stattfanden). In Kreißsaal zwei zieht die zentral stehende Gebärwanne die Blicke auf sich. Später beim Festakt zur Einweihung bedankte sich Professorin Melita Grieshop, sie ist die Leiterin des Studiengangs, ausdrücklich bei den Hausmeistern: Mehrfach hätte das Hebammen-Team die große und schwere Wanne verrücken lassen, um den optimalen Standort im Raum zu finden.
Augenrollende Puppe. Es könnte sein, dass im anderen Kreißsaal die „Mutter“ des Jünglings lag, den ich zu Beginn des Besuchs auf dem Arm hatte. Augenscheinlich war sie schon wieder hochschwanger. Neben ihr stand Hella Jonas, Lehrkraft für besondere Aufgaben: „Die ist unser Gebärprofi“, sagte sie, „mehr geht nicht“. Diese High-Tech-Puppe ist etwas unheimlich, Stranger Things, sie verdreht plötzlich die Augen, blinzelt – Kinder kriegen kann sie sowieso. „Ich kann nicht nur Komplikationen programmieren, sondern auch mit welchem Griff die Studentinnen arbeiten müssen, damit die Geburt weitergeht“, erklärt Hella Jonas. Mehrere zehntausend Euro kostet dieses Wunderwerk der Gebärsimulation. 500.000 Euro haben Hochschule und Senat in die Übungsstation investiert. „Es ist einer der modernsten Komplexe in Deutschland“, sagt später EHB-Rektor Sebastian Schröer-Werner.
Lauter Kameras. Der Clou am Skills Lab sind neben der modernen Puppen-Technik und der praxisnahen Ausstattung die Kameras und Bildschirme: Jeder Raum verfügt über Videokameras und große Monitore, in einem Kontrollraum können die Lehrkräfte beobachten, was die Studentinnen tun, können Rückmeldungen und Tipps geben – die werdenden Hebammen hören ihre Anleiterinnen über einen Knopf im Ohr. Später können die Lernenden auch selber das Übungsvideo ansehen und analysieren, an welchen Punkten die Behandlung verbessert werden könnte.
„Patienten“ sind neben den Puppen vor allem die Co-Studierenden und Lehrkräfte, die je nach simulierter Situation in eine Rolle schlüpfen. „An anderen Hochschulen gibt es dafür Schauspieler“, erklärt Studiengangsleiterin Melita Grieshop, aber dafür sei viel Geld nötig. Ein noch größerer Schritt wäre es, Schwangere in einer Hochschulambulanz in die Ausbildung einzubeziehen: „Das ist reine Zukunftsmusik.“
Mehr über das Skills Lab und die Ausbildung der Geburtshelferinnen (in Berlin können Sie nur an der Charité und der EHB Hebammenwissenschaft studieren) hat meine Kollegin Joana Nietfeld für Sie aufgeschrieben – hier zu lesen. Der Bedarf an Hebammen ist in Deutschland enorm, zum Glück sind die Studienplätze trotz vieler Probleme in der Geburtshilfe begehrt. In Zehlendorf hatten sich auf die 60 Plätze 600 Bewerberinnen beworben (kein einziger Mann war darunter); allerdings konnten in der EHB nur 46 Studentinnen aufgenommen werden – warum erklärt Ihnen meine Kollegin. Was sich in der deutschen Geburtshilfe ändern sollte und warum es ein großer Gewinn ist, dass Hebammen ein Studium durchlaufen müssen, erläutert weiter unten Beate Schücking, sie ist die ehemalige Rektorin der Uni Leipzig. Zur Einweihung der Skills Lab hielt sie in Zehlendorf die Festrede.
- Boris Buchholz ist in Wilmersdorf und Lankwitz aufgewachsen. Der Tagesspiegel-Redakteur lebt in Zehlendorf – die lokale und globale Politik interessiert ihn, seitdem er in der Fichtenberg-Oberschule die Schulbank drückte. Wenn Sie Anregungen, Kritik, Wünsche, Tipps haben, schreiben Sie ihm bitte eine E-Mail an boris.buchholz@tagesspiegel.de