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von Boris Buchholz

Veröffentlicht am 15.09.2022

Was für ein Paukenschlag kurz vor Mitternacht: Die Bezirksverordneten beschlossen gestern Nacht, die Treitschkestraße in Berlin-Steglitz umzubenennen. Zugegeben, die Uhr im Bürgersaal des Rathauses Zehlendorf schlug erst 23.07 Uhr als die Bezirkspolitikerinnen und Bezirkspolitiker ihre Hände hoben – ein Meilenstein war die Entscheidung trotzdem. Grüne, SPD, FDP und Linke stimmten für, CDU und AfD gegen diesen Satz: „Das Bezirksamt wird ersucht, die Steglitzer Treitschkestraße umzubenennen.“

Kein Straßenname hat die Bezirkspolitik so lange beschäftigt wie die Ehrung Heinrich von Treitschkes durch den Namen der kleinen Straße hinter dem Boulevard Berlin. In der Sitzung des Lokalparlaments waren sich Rednerinnen und Redner von Linken bis CDU einig: „Treitschke war ein Antisemit“, sagte Daniel Eliasson. Eindringlich betonte der Politiker der Grünen, dass ein Wegbereiter des Judenhasses nicht mit einem Straßennamen geehrt werden dürfe (mehr zu Heinrich von Treitschke erfahren Sie hier). „Er hat den Antisemitismus erst salonfähig gemacht“, ergänzte die SPD-Verordnete Ellinor Trenczek: „Die Umbenennung ist an der Zeit.“

Seit den 1990-er Jahren gab es immer wieder Initiativen und parlamentarische Bestrebungen, an den Ecken der Treitschkestraße neue Namensschilder zu befestigen. Erst fand sich dafür keine Mehrheit in der CDU-dominierten Bezirksverordnetenversammlung, später – CDU und Grüne waren eine Zählvereinbarung eingegangen – lautete der Kompromiss: Die Anwohnenden sollen über die Umbenennung abstimmen. Bei der Abstimmung 2012 war das Votum der Anlieger klar: 305 Bürgerinnen und Bürger hatten sich an der Befragung beteiligt, 226 waren gegen einen neuen Straßennamen und nur 64 dafür. Die damals für Bürgerdienste zuständige Stadträtin Cerstin Richter-Kotowski (CDU) sagte nach der Umfrage, dass das Ergebnis zeige, dass „die mehr als 15-jährige Debatte an den Bürgern vorbei geführt wurde“. Die Grünen bedauerten zwar den Ausgang der Bürgerbeteiligung, betonten aber, den richtigen Weg im Umgang mit der Treitschkestraße gefunden zu haben (springen Sie hier Sie zehn Jahre zurück).

Ein Kontrapunkt. Schon 2008 war der Park an der Treitschkestraße nach dem jüdischen Historiker Harry Breslau benannt worden. Damals sei „eine vernünftige Lösung im Umgang mit dieser Erblast gefunden worden“, meinte CDU-Fraktionschef Torsten Hippe in der gestrigen Nacht. Dem widersprach Dennis Egginger-Gonzalez (Linke): „Die Benennung des Harry-Breslau-Parks funktioniere nicht“, der Straßenname bleibe eine Ehrung eines Antisemiten, der den Satz „Die Juden sind unser Unglück“ formuliert hat.

„Der geschichtspolitische Stillstand ist passé“, jubelte der Linke. Nach der Abstimmung schallte lauter Applaus der Bezirksverordneten von Grünen, SPD, FDP und Linken durch den Rathaussaal. Wie die Seitenstraße der Schloßstraße in Zukunft heißen wird, ist noch unklar. Im Ausschuss für Bildung und Kultur solle unter Einbeziehung der Anwohnenden binnen eines Jahres ein Namensvorschlag erarbeitet werden, heißt es im Antrag. Den direkten Anrainern seien nach einer Umbenennung „unbürokratisch, kostenfrei und zeitnah sämtliche persönliche Dokumente neu auszustellen“.

Kurt-Scharf-Straße? Vielleicht heißt die Straße zwischen dem Sportplatz von Stern 1900 und dem Boulevard Berlin im kommenden Herbst nach Altbischof Kurt Scharf – diesen Namen hatten SPD und die anliegende Evangelische Patmos-Gemeinde schon vor zehn Jahren vorgeschlagen – Kurt Scharf war Pfarrer in der Gemeinde gewesen. Er war Vorsitzender der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, redete 1982 vor der UNO und trug entscheidend dazu bei, dass in Oświęcim/Auschwitz die Internationale Jugendbegegnungstätte entstehen konnte. Er wäre nach dem Wegbereiter der NS-Ideologie ein würdiger neuer Namensgeber. – Text: Boris Buchholz

Hier die aktuellen Themen, die Sie im Tagesspiegel-Bezirksnewsletter für Steglitz-Zehlendorf diese Woche lesen können.

  • Paukenschlag um Mitternacht: Treitschkestraße wird umbenannt
  • Lärm auf Havel und Wannsee: „Wasser ist kein rechtsfreier Raum für wenige Rücksichtslose auf Kosten Vieler“, sagt der Zehlendorfer Segler Christof Schaefer
  • Busspur Clayallee in drei Akten: Die Fakten, die Debatte, die Meinung der Bürgerinnen und Bürger
  • Zwei Dialogdisplays, Tempo 30, neue Ampelschaltung: Erfolg am Ostpreußendamm
  • Lichterfelde: Der Platz des 4. Juli wird erst 2024 entsiegelt und begrünt
  • Jeder achte Erwachsene kann nicht ausreichend schreiben und lesen: Jetzt bekommt auch Steglitz-Zehlendorf ein Alpha-Bündnis
  • Von ukrainischer Kunst über Nolde bis zu farbenfroher Sinnlichkeit: Neue Ausstellungen im Südwesten – ein Überblick
  • Rund um die Rübe: Teltower Rübchenfest in Ruhlsdorf
  • Größer und mehr: Wochenmarkt am S-Bahnhof wird zum „Zehlendorfer Händlermarkt“
  • Vogelkundlicher Spaziergang mit Derk Ehlert: Das große Flattern hat begonnen
  • Edle Blüten auf 1000 Quadratmetern: Größte Orchideenschau Berlins im Botanischen Garten
  • Weiße Bären: Die Herren 80+ des Wannseer Tennisvereins sind Berliner Meister
  • 0:1, 0:2, 1:2, 2:2, 3:2, 3:3, 4:3, 4:4: Viktoria verliert knapp gegen Turbine Potsdam
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