Kultur
Künstler und Modeladen starten Kunstprojekt am Schlachtensee
Veröffentlicht am 06.01.2022 von Boris Buchholz
Aus der schwarzen Box über dem Schaufenster erklingt eine Klavierversion von „Leise rieselt der Schnee“. Und tatsächlich aus der Spitze des Weihnachtsbaums hinter dem Glas perlen und fliegen die weißen Schneeflocken nur so heraus – und in den umgedrehten Regenschirm, in dessen Mitte nicht der Griff, sondern der Weihnachtsbaum steckt, hinein.
Auf einem ehemaligen Überwachungsbildschirm einer Bank wird ein schneebedeckter Baumausschnitt gezeigt. Live. „Gemeinsam gegen Corona“, tönt eine Stimme über die Musik, sie erinnert an Angela Merkel. „Bitte halten Sie auf Bahnsteigen und in den Zügen möglichst den Mindestabstand ein. Vielen Dank!“
„Ich habe die Ansage vom Bahnhof aufgenommen, das wurde ständig wiederholt und hat alle Anwohner genervt“, sagt Manuel Schroeder. Er ist Künstler und studierter Schlagzeuger, es ist seine Installation, die im Schaufenster in der Altvaterstraße genau gegenüber vom S-Bahnhof Schlachtensee zu sehen ist. „Leise rieselt der Schnee von Gestern“, heißt das Werk. Und „Berlin Black Box“ oder kurz B3 heißt das schwarze Schaufenster, in dem sie steht. Erst im Dezember wurde die „Berlin Black Box“ eingeweiht. Sie als reine Mini-Galerie zu beschreiben, wäre zu kurz gegriffen. Denn sie soll viel mehr sein und werden. Der Verein „Raumordnung – Gesellschaft für urbane Kunst und Gestaltung“ und der Kunstverein Schlachtensee, die den neuen Kunstort kreiert haben, wollen die Box als Kunst-Aperitif, als Teaser, als Lockmittel verstanden wissen. „Menschen, die hier einkaufen gehen, sollen an der Kunst teilhaben“, erklärt Manuel Schroeder, er ist auch der Kassenwart des Kunstvereins.
Das große Schaufenster, das zur Kunstvitrine wurde, gehört zum Modegeschäft „Siggel am Schlachtensee“. „Ich habe mich nicht entschlossen, das Schaufenster nicht mehr zu brauchen, sondern etwas besseres daraus zu machen“, erklärt Stephan Siggel, der Inhaber des Ladens. Als die Künstler mit der Idee zu ihm kamen, das Schaufenster zum Ausstellungsort zu erheben, habe er sofort zugestimmt. Vor allem, weil es nicht bei der Kunst hinter Glas bleibt – auch Kulturaktionen vor und im Laden sind Teil des Konzepts.
Die erste Performance fand bereits am 11. Dezember statt: Eine Schauspielerin saß im Modeladen hinter einer Glaswand und las Passagen aus Goethes Klassiker „Die Leiden des jungen Werther“ vor. Ihre Stimme wurde über die Lautsprecher über dem Schaufenster nach draußen getragen – und dabei rieselte der Schnee vom Baum, Blechkuchen und Punsch wurden gereicht. Drinnen ging der normale Ladenverkauf weiter. „Wir wollten ausprobieren, was passiert, angekündigt hatten wir die Aktion nicht“, sagt Stephan Siggel.
„Manche Kunden sind einfach stur durch den Laden gelaufen als ob nichts wäre“, andere hätten ehrfurchtsvoll der Vorleserin gelauscht. Manuel Schroeder nennt das Konzept „Inside-Out-Workflow“, er spricht von zwei Bühnen: einer im Laden, einer davor. Bei zukünftigen Aktionen könnte auch ein Livebild von drinnen ins Schaufenster übertragen werden, ein Akteur könnte außen vor dem Schaufenster Teil einer Aufführung werden, die zugleich im Laden stattfindet. Im Frühling könnte auch der Platz vor dem Eckgeschäft für Kunstumtriebe genutzt werden.
„Die Vermieterin unterstützt uns“, erläutert Claudia Marx. Sie ist die Vorsitzende des Kunstvereins, auch sie ist Künstlerin und mit Manuel Schroeder verheiratet. „Seitdem ich Teenager war, mache ich Collagen“, sagt sie. Im März wird sie ihre Kunstwerke in der zweiten Black-Box-Ausstellung präsentieren. Der Plan ist, dass dann das Schaufenster wirklich das ist – ein Schau-Fenster in eine weitere Welt, ein Appetitanreger. Nur ein Werk wird in der Box ausgestellt; der große Rest soll „klassisch“ an einem exklusiven und von Ausstellung zu Ausstellung wechselnden Ort in der „Villenkolonie Schlachtensee“ gezeigt werden. Das könnte eine Villa oder die Kirche in der Matterhornstraße sein. „Matthias Gutsche von der Immobilien Lounge Schlachtensee vermittelt uns die Villen“, sagt Manuel Schroeder, „er hat enorme Kontakte“. Vorstellbar sei auch, einen Videostream vom Ausstellungsort in die Kunstvitrine zu senden.
Stephan Siggels Augen blitzen: „Ich freue mich schon auf die Leute im Sommer, die leicht bekleidet mit dem Sixpack ihrer Wahl auf dem Weg zum Schlachtensee sind – und dann auf die Kunst stoßen.“ Viele würden nicht in „tausend Jahren in eine Kunstgalerie gehen“, sagt er. Aber die Straßenseite zu wechseln, weil sie das Schaufenster neugierig macht, das sei möglich. „Auch Jugendliche setzen sich mit der Kunst mehr auseinander als man denkt; und wenn es für ein Instagram-Foto ist.“ Dabei ist er sich sicher: „Die kaufen kein Gemälde, die kaufen auch keine Hose, die freuen sich über Kunst.“
Warum er bei der ganzen Aktion mit von der Partie sei? Auch in den Läden des Familienbetriebs, insgesamt betreiben die Siggels unter den Namen „comme“, „Studio 28“ und „Public“ elf Bekleidungsgeschäfte im Südwesten und eines am Kollwitzplatz, gehe es um Inszenierung und Präsentation. „Es ist ein langfristiges wirtschaftliches Interesse“, erklärt Stephan Siggel. Denn heutzutage müsse man „Anreize bieten, damit ein kleines Ladengeschäft betreten wird, da ist Mode und Kunst eine natürliche Kombination“. Er sieht das Projekt in Schlachtensee auch als ein Experiment. Sollte es erfolgreich sein, könnte er sich sofort vorstellen, es auch auf die Läden des Familienbetriebs zum Beispiel am Teltower Damm auszuweiten.
Doch erst einmal muss noch ein wenig gewerkelt und gefeilt, organisiert und geplant werden. Ab Mitte Januar müsse eine Umbaupause eingelegt werden, sagen die Organisatoren. Die Berliner Volksbank fördert das Projekt mit 3500 Euro, jetzt könne ein Beamer besorgt, die Technik in der Box überarbeitet und ein Sicherheitskonzept erstellt werden. Denn: „Wir haben schon zwei Maler als Kandidaten für Ausstellungen“, sagt Manuel Schroeder, da müssten die Gemälde gut geschützt sein. Auch die „klassischen“ Ausstellungen in der Villenkolonie müssten vorbereitet werden. Ab März sind dann die Collagen von Claudia Marx in der Black Box zu sehen.
Bis zum 15. Januar rieselt noch der „Schnee von gestern“ im Schaufenster aus dem Baum. Und die Stimme, die sehr an Angela Merkel erinnert, sagt auch weiterhin über das Klavier hinweg: „Together against Corona. Please Cover your mouth and nose with a FFP2- or KN95-mask. Thank you!“