Kultur

"Träumen mit offenen Augen": Das große Interview mit Lino Friese, dem jüngsten Circusdirektor Kleinmachnows

Veröffentlicht am 02.06.2022 von Boris Buchholz

Schon 2020 hieß es in den Kleinmachnower Kammerspielen „Manege frei!“, nationale und internationale Circus-Künstlerinnen und Künstler* verzauberten den Kinosaal. Star des Abends war Semen Shuster, besser bekannt als Clown Housch-ma-Housch. Die Karriere des preisgekrönten Starclowns führte ihn über Kiew, Paris und Monaco nach Kleinmachnow. Dass es damals dem Circusdirektor und Organisator Lino Friese gelang, den weltberühmten Circusstar in die Kammerspiele zu holen, war eine Sensation für sich – Lino Friese war damals noch Schüler an der Freien Waldorfschule Kleinmachnow und zählte 18 Jahre. Die Vorstellungen im März 2020 waren ausverkauft – eine Woche später dominierte der Coronavirus nicht nur das Circusleben in Deutschland.

Jetzt ist die Maskenpflicht gefallen, jetzt startet Lino Friese wieder durch: Die Schule ist abgeschlossen, das neue Circusprogramm steht. Am 11. und 12. Juni lädt der junge Circusdirektor zu seiner neuen Varieté-Show in die Neuen Kammerspiele Kleinmachnow. Vorhang auf!

Herr Friese, schon als Kind sind Sie dem Circus verfallen. Wann und warum war klar, dass Sie Circusdirektor werden wollen? Circusdirektor ist ein schönes Wort. Einer zu sein ist noch gar nicht lange mein Wunsch. Ganz im Gegenteil: Seit meinem sechsten Lebensjahr hat mich die Circuswelt vor allem hinter den Kulissen in ihren Bann gezogen. Das Reisen von Ort zu Ort, der technische Auf- und Abbau und die Logistik dahinter faszinieren mich bis heute. Früh zog es mich in diese Richtung. Nicht selber in der Manege zu stehen, war mein Wunsch, sondern hinter den Kulissen alle Fäden zu ziehen. Die Organisation zu übernehmen, sodass die wirklichen Künstler auf der Bühne sich voll auf ihren Auftritt fokussieren können und sich um nichts anderes kümmern müssen. Dies ist meiner Meinung nach der Erfolg zu einer gelungenen Show. Allerdings werde ich auch dieses Jahr – vielleicht etwas ungewollt [er lacht] – die Rolle des Moderators übernehmen und das Publikum durch meine Show führen.

Sie haben sich einiges vorgenommen – an zwei Tagen wollen Sie 1400 Besucherinnen und Besuchern in das Circuszelt, äh, den Kinosaal locken. Wie stellen Sie das an? 1400 Zuschauer nach Kleinmachnow zu bekommen, ist schon ein sehr ehrgeiziges Ziel bei etwas mehr als 20.000 Einwohnern. Gleichzeitig bedeutet dies auch vier ausverkaufte Vorstellungen, da der Kinosaal 350 Plätze hat. Ich bin schon etwas stolz, bereits etwas über 1200 Tickets verkauft zu haben und somit in die Neuen Kammerspiele an einem Wochenende so viele Menschen zu locken, wie schon lange nicht mehr. Gleichzeitig erleichtert mich dieser Erfolg sehr, da eine Wirtschaftlichkeit erst bei dieser hohen Auslastung gewährleistet ist.

Schon 1200 verkaufte Karten, wie haben Sie das gemacht? Der große Publikumszuspruch kommt sicherlich vor allem durch meine wirklich große Werbeoffensive. Bereits vor über zwei Monaten habe ich viele hundert Plakate an Privatzäunen und städtischen Flächen rings um Kleinmachnow aufgehängt, hinzu kamen große Werbebanner, viele Wurfzettel, ein Fernsehbericht und ein Radiospot. Ich wurde überall mit offenen Armen empfangen und bekam viel Unterstützung, für die ich sehr dankbar bin. Das hohe Niveau der ersten Auflage meiner Show hat sich außerdem ausgezahlt und bemerkbar gemacht, da viele Leute das noch im Kopf hatten und nun mit Freunden und Bekannten wiederkommen. Das freut mich.

Ihren diesjährigen Star, den Clown Tonito Alexis, haben Sie in Belgien abgeworben… Ja, dieses Jahr ist er den Sommer über in einem großen Freizeitpark in Belgien engagiert und unterbricht sein Engagement dort für meine Show. Tonito Alexis ist ein wunderbarer Künstler und großartiger Clown in der fünften Generation. Ursprünglich kommt er aus Spanien und trat schon als kleiner Junge zusammen mit seinem Bruder, seiner Mutter, seinem Vater und seinem Opa in den großen Manegen auf, zum Beispiel beim Circus Krone. Er ist über den großen Erfolg im ersten Jahr auf mich aufmerksam geworden und hatte Interesse an einer Zusammenarbeit. Gleichzeitig wollte er mich näher kennenlernen und mich als jungen Mann bei meinem Vorhaben unterstützen, da auch er dafür lebt, das Publikum zu begeistern.

Was wird seine Rolle in der Show sein? Tonito wird der rote Faden im Programm sein und mit mir zusammen das Gesicht der Show werden. Er ist unglaublich vielseitig und hat viele großartige Talente, wird live Trompete und Saxophon spielen und auch Singen. Ich bin sehr stolz, den vom Circus Roncalli bekannten Rhönrad-Comedy-Artisten Konstantin Muraviev für meine Show gewonnen zu haben. Ich habe außerdem die wunderbare italienische Seifenblasenkünstlerin Corinne entdeckt und engagiert. Sie wird das Publikum mit magischen Seifenblasenkonstellationen verzaubern. Rasante Artistik auf Rollschuhen, eine moderne, menschliche Tanzmarionette, Jonglage und Artistik hoch unter der Kammerspieldecke am sogenannten chinesischen Mast – es wird ein großartiges Erlebnis.

Wie reagieren die renommierten Circuskünstler, wenn Sie sie als junger Mann und Visionär engagieren wollen und „Kleinmachnow“ sagen? Kleinmachnow ist schon ein sehr guter Standort, auch wenn er in der Circusbranche – noch! – keinen großen Namen hat [er lacht wieder]. Viele Künstler leben und wohnen in Berlin und so erleichtert sich oft schon mal die Anreise. Ansonsten zieht es Künstler, so verrückt es auch klingt, auch wirklich an Orte, die sie noch nie vorher bereist haben. Natürlich spielt aber auch die Gage eine große Rolle. Kurze Engagements, sogenannte Galas, sind bei den Künstlern sehr beliebt, da sie in einem kurzen Zeitraum deutlich mehr verdienen als bei Langzeitengagements.

Was zahlen Sie mir denn, wenn ich auf dem Pferderücken stehend durch das Kino reite? Damit würden Sie sicher im Kino für großes Aufsehen sorgen und sich eventuell für die nächste Show und eine Gage qualifizieren. Ein tobender Applaus und meine Anerkennung wäre Ihnen ganz sicher gewiss.

Circus hat den Ruf, etwas für Kinder zu sein. Stimmt das – und haben Sie deshalb für die älteren Semester den Zusatz „Varieté“ gewählt? Circus steht eigentlich eher für eine Unterhaltungsform für die ganze Familie. Circus ist eigentlich die einzige Live-Unterhaltung für alle Altersklassen, da in einem guten Circusprogramm für jeden etwas dabei ist. Der Zusatz Varieté kam zustande durch den Veranstaltungsort mit seiner Bühne. Ich habe ja keine klassische, runde Circusmanege zur Verfügung und habe mir daher die Aufgabe gestellt, die klassische Circusshow, die mich als Kind in ihren Bann gezogen hat, mit Elementen des Varietés zu verbinden, um eben genau dem Grundgedanken der Show für die ganze Familie weiterhin gerecht zu werden: Circus ermöglicht Träumen mit offenen Augen.

Was sind Ihre Pläne, soll „Lino Frieses Circus Varieté“ eine dauerhafte Einrichtung in Kleinmachnow und anderswo werden? Im Moment denke ich eigentlich nur an die diesjährige Ausgabe. Insgeheim ist mein Wunsch aber schon, die Show in Kleinmachnow zu etablieren und auch innerhalb der Circusszene zu einem Begriff zu machen. Mir wäre es ein großes Anliegen in meinem Heimatort ein jährliches Event durchzuführen. Das Publikum in Kleinmachnow und Umgebung ist auch einfach super dafür und die Unterstützung und die Begeisterung vor Ort, die ich erfahren habe, ist einzigartig. Ich würde mich gerne dafür auch in Zukunft mit tollen Shows bedanken.

Machen sich Ihre Eltern, Großeltern und Freunde ob Ihrer circensischen Leidenschaft Sorgen um Ihre Zukunft? Nein, Sorgen nicht! Eher teile ich viele schöne Erlebnisse mit meinen Eltern, weil sie viel mit mir gemeinsam zu verschiedenen Circusshows gereist sind und sie dadurch meine Leidenschaft verstehen. Es ist auch nicht die Gefahr, dass ich mit dem Circus durchbrenne. Ich bin bereits in der 11. Klasse ein halbes Jahr mit einem Circus durch Deutschland getourt – ich kenne also das Gefühl und genieße es sehr. Aber ich weiß selber ganz genau, dass ich vorher mit meinem Abitur noch etwas „richtiges“ Lernen will. Ich plane nach dem Abschluss meiner Show zum Herbst ein Studium oder eine Ausbildung in die Richtung von Veranstaltungsplanungen. Zum Beispiel finde ich Marketing oder das Management von Events sehr spannend und stelle mir etwas in dieser Richtung als meine weitere Zukunft vor.

Hat denn Circus eine Zukunft? Was muss ein moderner Circus leisten, um überleben zu können? Weil die Unterhaltungskunst Circus bedeutet, eine Live-Show für die ganze Familie zu bieten, hat Circus definitiv eine Zukunft. Ich glaube auch, dass die Menschen irgendwann zurückkehren werden zur Live-Unterhaltung, zum Genießen mit Freunden und Familie und zum gemeinsamen Erleben! Denn Netflix, Social Media und Co. werden irgendwann sicher auch wieder ihren Reiz etwas verlieren. Dann – und auch schon jetzt – ist es ganz wichtig, dass der Circus anpassungsfähig ist, mit der Zeit geht und die Besucher wieder mit innovativen Ideen überrascht, begeistert und anzieht.

In meinem Bekanntenkreis kenne ich junge Menschen, die jahrelang Lokomotivführer werden wollten und heute eine Bahncard 25 besitzen. Sie waren vom Circus begeistert, jetzt sind Sie Circusdirektor. Wie wichtig ist Leidenschaft – und was kann sie bewirken? Leidenschaft ist unersetzbar und in meinem Fall absolut notwendig. Nur mit Leidenschaft und Begeisterung kann man seine Ziele und Träume in der Wirklichkeit umsetzen und realisierbar machen. Ohne Leidenschaft und Herzblut könnte ich nicht so viele Stunden und so viel harte Arbeit für meine Show durchstehen, ohne am Ende großartig Geld zu verdienen.

Was, Sie verdienen bei 1400 verkaufen Karten keine müde Mark? Meine Show wirft zur Zeit noch keinen wirtschaftlichen Gewinn ab. Alle Einnahmen sind dazu da, die hohen Ausgaben zu decken – und darüber hinaus bedurfte es toller, finanzieller Unterstützung durch Sponsoren. Wenn am Ende der Vorstellung die kleinen, aber auch die großen Besucher mit leuchtenden Augen, zufrieden und beseelt meine Show verlassen und den grauen Alltag vergessen konnten, dann ist das für mich Freude genug. Dann hat sich die ganze Arbeit für mich gelohnt und meine Leidenschaft zum Freudeschenken hat sich ausgezahlt.

  • Infos und Kontakt: Vorstellungen finden am Samstag, 11. Juni, um 16 und 20 Uhr sowie am Sonntag, 12. Juni, um 11 und 15 Uhr statt. Einzelkarten kosten 20 Euro, ein Familienticket schlägt mit 66 Euro zu Buche. Die Neuen Kammerspiele Kleinmachnow finden Sie in der Karl-Marx-Straße 18. Mehr unter: www.variete-circus.de

* Da Lino Friese lieber „Circus“ als „Zirkus“ geschrieben sieht, schließe ich mich dem circensischen „C“ an. Es wirkt nicht nur verträumter, schöner und poetischer als das härtere „Zirkus“, sondern wird auch noch vom Duden als Schreibweise ausdrücklich geduldet.