Kultur
„Bämm! Und dann sah ich tausend Farben“: Der schönste Liebesroman des Sommers
Veröffentlicht am 08.09.2022 von Boris Buchholz
Es sind von Berlin 2198 Kilometer nach Istanbul. Wenn das Navi im Auto dann noch die Fahrzeit von 22 Stunden und 43 Minuten angibt, dann würden viele Menschen seufzen, sich eine Extra-Kanne Kaffee kochen und überlegen, wo man überall übernachten könnte. Fatih sagte nur eins: „Klasse!“ Und Ela fragte: „Was ist klasse?“ – „Ein Tag hat 24 Stunden. Wir brauchen aber nur 22 Stunden und 43 Minuten. Das heißt: In weniger als einen Tag sind wir schon da!“ Ela freute sich. Fatih freute sich auch. Und dann fuhr er los.
Doch so kann man die Geschichte von Fatih und Ela nicht erzählen – das ist ja schon auf dem Weg zum Ende. Kennen gelernt haben sich die beiden im Bus des Fahrdienstes, er war auf dem Weg in die Autowerkstatt, sie zur Zeitung. Eines Tages saß sie einfach im Bus: Und zwar genau auf seinem Platz. „Ich guckte hoch und dann: BÄÄMMM! In mir drin explodierte etwas. Und dann sah ich tausend Farben. Echt. So war das.“
Für Fatih ist es das erste Mal, richtig verliebt zu sein. „Ich sitze hier einfach neben der schönsten Frau der Welt. Bis ich sterbe.“ Und das Tolle ist: Ela erwidert seine Gefühle. Gemeinsam lernen sie zu lieben, durch Höhen und Tiefen, vertrauen sich Geheimnisse an. Er kann zum Beispiel etwas Verbotenes, er kann Auto fahren. Ohne Führerschein. Und sie kann – oh, das ist etwas ganz Aufregendes, und mindestens ebenso verboten: Sie kann küssen!
Die Zehlendorfer Autorin Alexandra Lüthen hat mit ihrem im August erschienenen Buch „Ela“ den Liebesroman dieses Sommers geschrieben. Aus der Perspektive von Fatih erzählt sie diese sehr mögliche, für Viele aber unmöglich erscheinende Geschichte voller Gefühle, Zärtlichkeit und Zuneigung. Schließlich haben beide Protagonisten das Down-Syndrom. Es geht in „Ela“ um die Liebe; der Roman bietet aber zugleich sehr authentisch Einblicke in das Leben eines Menschen mit einer Behinderung. In der Autowerkstatt wird Fatih regelmäßig neuen Kunden mit den Worten „und das ist unser Behinderter“ vorgestellt. Ins Bällebad bei Ikea kam Fatih als Kind nur einmal – seine Mutter musste die Angestellten bestechen, damit das „besondere Kind“ eingelassen wurde.
Aber spielt es, wenn man verliebt ist, eine Rolle, ob man anders ist, ob man eine Behinderung hat? „Die Musik in meinem Kopf wurde immer schöner und lauter. Zwei Orchester jetzt. Das war, weil Elas Orchester auch dabei war.“ Schöner als Fatih die Liebe beschreibt, wurde sie selten in Klänge und Worte gekleidet. Für alle, egal ob sie das Down-Syndrom, eine Glatze oder einfach einen gesunden Körper haben.
Autorin Alexandra Lüthen ist eine Künstlerin. Denn sie erzählt die komplexe Geschichte von Gefühlen, Widerständen und Verwirrungen in einfachen Worten. Sogar in Einfacher Sprache: Die Sätze sind kurz, Nebensätze sind selten, zusammengesetzte Worte werden mit einem Punkt in ihre Einzel•teile zerlegt, es gibt sehr viele Absätze. Der Geschichte und dem Lesefluss bereitet das keine Probleme. Zum Beispiel die Szene mit dem ersten Kuss:
„Elas Lippen. Warm und weich. Und dann etwas Feuchtes, Rundes. Elas Zungen•spitze. Sie stupste meine Lippen an. Ganz freundlich. Und noch mal, diesmal weiter. Und dann passierte das, was Ela gesagt hatte: Ich wusste, was ich machen musste.“
Texte in Leichter oder Einfacher Sprache gibt es einige, auch wenn es mehr sein müssten. Doch Literatur in Einfacher Sprache ist eine Seltenheit. „Warum sollten nicht alle mit Kunst in Berührung kommen dürfen?“, fragte Alexandra Lüthen vor einem Jahr im Tagesspiegel-Interview – Sie können den T+-Text hier lesen. „Ein Theater mit Rollstuhlrampe ist nicht ein Behindertentheater, sondern einfach ein frei erreichbarer Ort. Es spricht einfach überhaupt nichts dagegen, sich daran zu orientieren, wie möglichst viele Menschen am Leben in seiner ganzen Bandbreite teilhaben können.“ Ihre Erfahrung ist, dass zu manchen ihrer Lesungen ausschließlich gebildete, literaturerfahrene Menschen kommen. „Irgendwer heult immer. Weil Einfache Sprache einen Bereich berühren kann, in dem wir wehrlos sind.“
Sie spricht von einem Zauber, der entsteht. „Ela“ ist ihr erster Roman. Und „Ela“ beweist, dass dieser Zauber real ist, dass die Geschichte mitreißt, dass die Sprache einfach passt. Noch dazu sind die 25 Euro, die das Buch kostet, gut investiert: Die Illustrationen von Mary Delaney sind eine Bereicherung, die großzügige Gestaltung von Claudia Eder ein Augenschmaus. Das letzte Wort soll Fatih gehören – kaum jemand ist überzeugender:
„Ich dachte mir: Dieses Auto ist schnell und schön. Man kann weit damit fahren. Ich kann Auto fahren und Ela kann küssen. Damit kommt man weit.“
- „Ela“ von Alexandra Lüthen, Kunstanstifter Verlag, August 2022. ISBN: 978-3-948743-19-2. 25 Euro.