Namen & Neues
Freiheit muss man sich nehmen: Herta Müller war der Stargast beim Festakt der Freien Universität
Veröffentlicht am 06.12.2018 von Boris Buchholz
Es sei doch vieles so wie vor siebzig Jahren, erklärte der Präsident der Freien Universität Berlin, Günter Ziegler, am Dienstag vor dem Publikum im übervollen Audimax des Henry-Ford-Baus. Am 4. Dezember 1948 wurde die Freie Universität im Steglitzer Titania-Palast gegründet (es war damals der größte intakte Saal im Westen Berlins). Der Saal sei wieder voll, die Bühne festlich geschmückt. Und doch war etwas ganz anders: Während vor siebzig Jahren die Berliner Bürgermeisterin Louise Schroeder sowie der gewählte, aber von den Sowjets nicht anerkannte Oberbürgermeister Ernst Reuter die Geburtsstunde der Universität in historischen Redebeiträgen würdigten, war zum Jubiläum am 4. Dezember 2018 kein Regierender Bürgermeister, keine Senatorin und kein Minister zugegen.
Stattdessen spielte ein Kollege in der Pressereihe vor mir während der Grußworte von Michael Meister, Staatssekretär im Bundesforschungsministerium, und Stefan Krach, Wissenschaftsstaatssekretär des Senats, auf seinem Handy Schach. Eine Reihe weiter verteidigten zwei ältere Damen einen der wenigen freien Sitzplätze emsig und unterhaltsam, ihre Freundin Gudrun sei gerade losgegangen – und käme bestimmt gleich wieder (das dauerte jedoch eine ganze Weile). In der ersten Reihe des Saals saß Karol Kubicki, er war mit der Matrikelnummer 1 der erste Student der FU, der an diesem Tag 92 Jahre, vier Monate und 29 Tage alt war (da passt die Pressestelle der FU genau auf). Die Feier zum 70. Uni-Geburtstag war Festakt und Klassentreffen zugleich.
Als Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller an das Podium trat, schaltete mein Vordermann das Handy aus. Und auch die Freundinnen von Gudrun konzentrierten sich jetzt auf das Geschehen auf der Bühne. Im Audimax wurde es still. Sie lebe jetzt genauso lange in der Freiheit wie zuvor in einer Diktatur, sagte die Schriftstellerin zu Beginn ihres Vortrags „Freiheit steht nicht still“. „Es ist mir bis heute nicht gelungen, Freiheit als selbstverständlich anzusehen“, erklärte sie. In Rumänien, dort lebte sie bis 1987, hätte sie sich oft in Bücher geflüchtet, „ich war im Herzen der Sätze wie in einem warmen Zimmer“. In der beruflichen Realität wurde sie drangsaliert. Sie arbeitete als Übersetzerin in einer Fabrik; nachdem sie sich geweigert hatte, für den Geheimdienst zu spitzeln, musste sie jeden Morgen zum Rapport zum Fabrikdirektor, ihre Arbeit verrichtete sie auf einem Taschentuch sitzend im Treppenhaus. Aus dem Büro war sie verbannt worden.
„Wie soll man leben“, fragte Herta Müller in die Runde der Geburtstagsgäste. „Wie soll man nicht so leben, wie man nicht sein will?“ – „Das meiste, was ich über Freiheit gelernt habe, habe ich aus den Mechanismen der Unterdrückung gelernt“, resümierte sie. Zum Beispiel sei Freiheit immer konkret, allgemein könne sie über Freiheit nicht sprechen. Entweder finde etwas statt, oder es werde verhindert – Freiheit werde oft über Unfreiheit definiert. Sie erzählte von Angstmachern und Angstbeißern und von dem Sprichwort: „Am Rande der Pfütze springen alle Katzen anders.“ Ihre Beobachtung in Rumänien war, dass in einer Diktatur keine Katze über die Pfütze springt. Auch sie habe es nicht über die Pfütze geschafft. Aber: „Freiheit ist auch, wenn man mit ihr voll in die Pfütze springt.“ Diese Freiheit nahm sie sich. Mit allen Konsequenzen.
Und Freiheit müsse sich auch eine Universität nehmen können, plädierte sie. In Rumänien könne man sich Prüfungen immer noch kaufen, in Polen werde die Freiheit der Forschung eingeschränkt, in Ungarn werde eine renommierte Universität aus dem Land gejagt. Die Freie Universität stehe für eine Freiheit, die nicht still stehen dürfe. Stille. Und dann langanhaltender Beifall des Auditoriums.