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"Die historische Verantwortung können und wollen wir nicht leugnen": Stele erinnert an die ermordeten 500.000 Sinti und Roma
Veröffentlicht am 04.04.2019 von Boris Buchholz
Seit Ende März steht sie, die Stele vor dem Gebäude Unter den Eichen 82-84. Hier war zwischen 1936 und 1945 die „Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle“ des Reichsgesundheitsamtes untergebracht. Beim Festakt am vergangegen Freitag sagte Ralf Wieland (SPD), der Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin: „Ich verneige mich vor den Opfern der deutschen Rassenpolitik zwischen 1933 und 1945.“ Die in Dahlem gelegene „Forschungsstelle“ hatte den Massenmord an 500.000 Sinti und Roma vorbereitet. Dieses „Menschheitsverbrechen“ dürfe „nicht vergraben werden“, sagte der Parlamentspräsident. „Von hier aus wurde unendliches Leid über die Sinti und Roma gebracht.“ Und er fuhr fort: „Diese historische Verantwortung können und wollen wir nicht leugnen.“
Petra Rosenberg, Vorsitzende des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg, thematisierte auch die fehlende Aufarbeitung nach dem Ende des Nationalsozialismuses. Der Psychiater und Rassenforscher Robert Ritter hatte die NS-Forschungsstelle „mit finanzieller Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft“ aufgebaut. Nach 1945 wurden weder er noch seine Mitarbeiter zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil: „Ritter erhielt eine Anstellung in der Jugendpsychiatrie im Gesundheitsdienst der Stadt Frankfurt“, berichtete Petra Rosenberg in ihrer Rede. Zynisch und das menschliche Leid, das er selber verursacht hatte, verachtend war, dass er „zudem als Gutachter von Entschädigungsämtern zu Rate gezogen [wurde], wenn es um Wiedergutmachungsleistungen für Sinti und Roma beziehungsweise um ihre Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus ging“. Die Informationsstele sei „längst überfällig“, sagte sie. Auch ihr Vater Otto war eines der „Versuchsobjekte“ von Ritter und seinen Kumpanen. Er überlebte und berichtete als Zeitzeuge von Verfolgung und Genozid.
Der Bezirk tat sich schwer mit dem Gedenken an die Verbrechen an den Sinti und Roma. Erst 1988 wurde erstmals eine Ausstellung am authentischen Ort über die Forschungsstelle gezeigt. Nach einem Zeitzeugengespräch mit Otto Rosenberg regten zwei Schüler einer Lichtenberger Oberschule an, dass eine Gedenktafel vor Ort angebracht werden sollte; 1995 wurde sie installiert. 2016 beschloss die Bezirksverordnetenversammlung auf Antrag der SPD einstimmig, eine Informationsstele aufzustellen. „Nach diesem Beschluss erfolgte lange nichts seitens des Bezirksamtes“, erinnert sich Annegret Ehmann, die sich zusammen mit ihrem Mann Christoph für ein würdiges Gedenken einsetzte. „Wegen Untätigkeit“ habe dann Christoph Ehmann 2017 eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Bildungsstadtrat Frank Mückisch (CDU) eingereicht; später habe der Stadtrat eingeräumt, „dass infolge eines ‚Büroversehens‘ der Vorgang unbearbeitet liegen geblieben sei“, berichtet Annegret Ehmann. Es dauerte noch über ein weiteres Jahr, bis die Stele endlich stand. „Es war ein ungeheures Glücksgefühl, als die Stele jetzt fertig war“, sagte mir die Zehlendorferin nach der Enthüllung. Und sie spricht ein grundsätzliches Problem an: „Die Sinti und Roma sind immer vergessen worden.“ – Boris Buchholz
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