Namen & Neues
Am europäischen Haus muss gearbeitet werden: Diskussion über mehr Demokratie in und Visionen für Europa
Veröffentlicht am 02.05.2019 von Boris Buchholz
„Im Moment ein wenig am Bröckeln“, „Frieden“, „Freiheit“, „ein bürokratisches Monster“, „ein Moloch“ – am Dienstagabend gingen in der Ernst-Moritz-Arndt-Gemeinde in Zehlendorf die Meinungen zur Europäischen Union weit auseinander. Etwa 35 Interessierte waren in das Gemeindehaus gekommen, um mit der Autorin Ute Scheub über die Demokratisierung Europas zu sprechen. Was ist denkbar, was ist möglich? Wo liegen die Probleme? Für die Zehlendorferin und Europäerin liegt „zum ersten Mal ein Scheitern in der Luft“. Die Rechtspopulisten, die Intransparenz von Entscheidungen, der Einfluss von nationalen Egoismen und wirtschaftlichen Interessen sowie die Bürgerferne hätten die Europäische Union in eine tiefe Krise gestürzt, analysiert Ute Scheub. Die kommende Wahl zum Europäischen Parlament sei eine „Schicksalswahl“, ist sie sich sicher. Doch zugleich ist sie voller Hoffnung: Das Projekt Europa lasse sich retten.
Ihr Rezept: Die beste Medizin wäre, die Europäische Union zu demokratisieren. Das Europäische Parlament habe weder die Macht, eigene Gesetze auf den Weg zu bringen, noch könne es alleine über den EU-Haushalt beschließen. Die Regierung, die EU-Kommission, wird von den nationalen Regierungschefs eingesetzt und nicht vom Parlament gewählt. Eine echte Legislative wie der Bundestag, sei das EU-Parlament nicht, höchstens eine halbe, meint Ute Scheub. Dagegen habe die Kommission zu viel Macht, sei Exekutive (Umsetzung von Gesetzen), Legislative (Vorschlagsrecht für neue Gesetze und Verwaltung des Haushalts) und sogar Judikative (verhängt Strafgelder bei Verstößen von Mitgliedsstaaten) in einem.
Es sei höchste Zeit, den europäischen Souverän, die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedsstaaten, wieder in den Mittelpunkt des politischen Geschehens zu rücken. Darüber hat sie ein angenehm dünnes Buch geschrieben: „Europa – Die unvollendete Demokratie“ heißt es, es ist im Auftrag des Vereins Mehr Demokratie! (auf der Website des Vereins können Sie das Buch kostenlos bestellen) entstanden. Wie wäre es, wenn die Parlamentarier nicht mehr über nationale, sondern über europaweite Listen gewählt werden würden – und zwar europaweit nach dem gleichen Wahlrecht (heute vertritt ein EU-Parlamentarier aus Deutschland etwa 850.000 Menschen, einer aus Malta aber nur 66.000 Bürger)? Wie wäre es, wenn eine neue EU-Verfassung nicht vom Parlament, sondern von einer Bürgerversammlung erdacht werden würde? Wie wäre es, wenn es keine nationalen Pässe mehr gäbe, sondern alle EU-Bürger die europäische Staatsbürgerschaft und einen europäischen Pass hätten? Und wie wäre es, wenn die Regionen wichtiger werden und mehr Entscheidungsfreiheit und finanzielle Mittel erhalten würden? Ute Scheub warf eine Vision von Europa in den Gemeindesaal, die beim Zuhören Spaß und Freude machte – aber auch Skepsis auslöste.
Diese Utopien seien „reizvoll“, meinte eine Zuhörerin, doch wäre ein Europa der Regionen gerade in Krisensituationen „sehr schwerfällig“. Isoliert seien solche Lösungen kaum möglich. „Warum nicht?“, konterte Europa-Expertin Scheub. Es gehe im Kern darum, „die eigenen Werte ernst zu nehmen“. Wenn man Demokratie und Gewaltenteilung im eigenen Land predige, wieso dürften auf der europäischen Ebene dann andere, undemokratischere Regeln gelten? Ein Diskutant warf ein, dass die Idee von Bürgerräten und -gremien zwar gut sei. Doch zeige die reale Politik, dass zum Beispiel die Arbeit von ehrenamtlichen Beiräten – egal ob lokal oder national angesiedelt – von der Politik nicht anerkannt werde: „Es gibt viele Beiräte, aber sie können nichts entscheiden.“
Das sei ein wunder Punkt, gab die Autorin zu. Die Entscheidungen von Bürgergremien „müssen von der Politik ernst genommen und anerkannt werden“. Dafür gebe es allerdings auch positive Beispiele, weiß Ute Scheub: In Irland bereitete ein Bürgerrat das Referendum für die Einführung der Homoehe vor – der Vorschlag wurde bei der folgenden Volksabstimmung angenommen. In Kanada, den Niederlanden und Island diskutierten per Los zusammengesetzte Bürgergremien neue Wahlgesetze und Verfassungsartikel. Das erfolgreiche Volksbegehren zur Rettung der Bienen wird in Bayern zum Gesetz. Dem Einwohnerantrag, in Lichterfelde-Süd einen authentischen Gedenkort für das Kriegsgefangenenlager Stalag III D zu errichten, stimmte das Bezirksparlament einstimmig zu.
Nach der zweistündigen Debatte in Zehlendorf war zwar die Europäische Union noch nicht im Konsens reformiert. Aber in einem Punkt war sich das Publikum mit der Referentin einig: Es lohnt sich, am 26. Mai wählen zu gehen – für eine demokratischere Europäische Union, eine weltweit einzigartige politische Errungenschaft.