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Politischer Denkmalschutz: Wie 92 Zentimeter dafür sorgten, dass das Flüchtlingsheim am Osteweg genehmigt wurde

Veröffentlicht am 31.10.2019 von Boris Buchholz

Politischer Denkmalschutz: Wie 92 Zentimeter dafür sorgten, dass das Flüchtlingsheim am Osteweg genehmigt wurde. Es ist ein Berliner Denkmalschutz-Krimi, der sich zwischen der Unteren Denkmalschutzbehörde (sie ist beim bezirklichen Stadtplanungsamt angesiedelt), dem Landesdenkmalamt, der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen und der Obersten Denkmalschutzbehörde (sie gehört zur Senatsverwaltung für Kultur und Europa) abgespielt hat.

Die Streitfrage lautet: Ist die vom Senat auf dem Osteweg 63 gewünschte Flüchtlingsunterkunft mit dem Denkmalschutz zu vereinbaren? Und eine weitere Frage steht im Raum: Wurde fair gespielt? Der Tagesspiegel hat sich die Akten angesehen – Vorhang auf, hier der Ablauf der Ereignisse:

Akt 1: So geht das nicht! Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen legt im März 2019 die Karten auf dem Tisch und erstmalig die konkreten Bauunterlagen für die geplante Modulare Unterkunft für Flüchtlinge (MUF 2.0) für den Osteweg 63 den Denkmalschutzbehörden vor. Die Denkmalschutzbehörde im Bezirk und das Landesdenkmalamt (LDA) sind sich einig: Das geht nicht! Denn die an das Bauvorhaben angrenzende Kirche, die von den US-Amerikanern erbaute McNair Barracks Chapel, sei ebenso als Denkmal geschützt wie das ehemalige Telefunken-Werk (und spätere amerikanische Kaserne) dahinter. 13 Meter hoch und 83 Meter lang soll das MUF-Gebäude werden, die Kirche ist an ihrer höchsten Stelle 5,40 Meter hoch und 37 Meter lang. Im Einvernehmen schreiben die unteren und mittleren Denkmalschützer: „Die Neubaukulisse ist städtebaulich als eine wesentliche Beeinträchtigung für das Baudenkmal zu werten.“ Es heißt, dass der Neubau den Sakralbau „einschachtele“, dessen architektonische Wirkung „vermindere“. Bei dem geplanten MUF handele es sich um einen „Langriegel“. Beide Behörden lehnen die Genehmigung des Bauvorhabens in seiner baulichen Form ab – am 8. Mai kommt die Briefmarke auf den Bescheid.

Akt 2: Die 92-Zentimeter-Planung. Der verantwortliche Mitarbeiter der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen ist mit der Entscheidung der Denkmalexperten nicht zufrieden – Anfang Juni wird eine neue Planung eingereicht. Die wesentliche Änderung: Das MUF wurde um etwa einen Meter Richtung Straße verschoben. Genau 92 Zentimeter ist das Gebäude jetzt von der Kirche weiter weg.

Akt 3: Es wird gedroht. Den Leiter der Unteren Denkmalschutzbehörde im Rathaus Zehlendorf erreicht am 26. Juni ein Schreiben von der Senatsverwaltung. Er solle die neuen Planungen absegnen, schließlich hätte es in Voranfragen aus dem Jahr 2018 – damals lagen weder konkrete Planungen vor, noch stand die Kirche bereits unter Schutz (seit Frühjahr 2019 ist sie ein Denkmal) – seitens des Bezirks keine Bedenken gegeben. Und es wird massiv gedroht: „Sollte nun die denkmalrechtliche Genehmigung … nicht kurzfristig erteilt werden, wird eine disziplinarrechtliche Prüfung – einschließlich Regressforderung für den dem Land Berlin entstandenen Schaden durch verlorene Planungskosten – eingeleitet.“

Akt 4: Der Bezirk lehnt mit Bescheid vom 18. Juli das Bauvorhaben ab. Auch durch die 92-Zentimeter-Verschiebung werde das Erscheinungsbild der Kirche „unzweifelhaft beeinträchtigt“ und zwar „durchaus wesentlich“.

Akt 5: Ein Dissens wird erzeugt. In einer internen E-Mail der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen vom 23. Juli 2019, sie liegt dem Tagesspiegel vor, schreibt der leitende Mitarbeiter: „Ich habe in Abstimmung mit dem LDA (Dr. Rauhut) einen neuen – leicht geänderten – Antrag gestellt, um einen Dissens zu erzeugen.“ Zum Hintergrund: Sollte es dazu kommen, dass ein Bauvorhaben von der Unteren Denkmalschautzbehörde anders eingestuft wird als vom Landesdenkmalamt – der eine will genehmigen, der andere nicht – entscheidet die Oberste Denkmalschutzbehörde beim Senator für Kultur und Europa über das sogenannte Dissensverfahren.

Akt 6: Das Landesdenkmalamt gibt nach – und dem Bauvorhaben in der 92-Zentimeter-Variante statt. Zwar gäbe es eine Beeinträchtigung des Baudenkmals, sie sei aber durch die neue Planung „nicht mehr als erheblich“ einzustufen, argumentiert das LDA in dem Schreiben vom 14. August. Der Dissens ist da.

Akt 7: Die Obere Denkmalschutzbehörde genehmigt am 16. September die MUF. Es gibt zwei Auflagen: Die Farbigkeit der Fassade muss mit den bezirklichen Denkmalschützern abgesprochen werden und eventuelle Aufbauten auf dem Dach des MUF müssen mit Sichtblenden versehen werden. Aus dem Schreiben kann man ableiten, dass die obersten Berliner Denkmalfachleute auch den ersten Plan-Entwurf wohl genehmigt hätten; auf die Verschiebung um 92 Zentimeter geht die Behörde mit keinem Wort ein. Aber dafür wird festgehalten, dass für die Experten die radikal veränderte Sichtweise des LDAs ein Rätsel ist. Auf Seite 9 des Prüfvermerks heißt es: „Vor dem Hintergrund, dass im vorangegangenen Genehmigungsverfahren das LDA die Auffassung der UD [Untere Denkmalschutzbehörde] teilte, wird der geänderte Bewertungsmaßstab des LDA zum Vorhaben aus dem Verwaltungsvorgang nicht ersichtlich.“

Hat sich das Landesdenkmalamt zum Spielball politischer Interessen machen lassen? Landeskonservator Christoph Rauhut erklärte auf Nachfrage des Tagesspiegels, „politische, bauplanungsrechtliche oder anderweitige Nutzungsinteressen“ seien bei der Prüfung des Vorhabens „nicht relevant“ gewesen. Warum seine Behörde das Vorhaben erst ablehnte und dann zustimmte, erklärt er so: „Die Verschiebung des Baukörpers um circa einen Meter im Rahmen des im Herbst 2019 vorgelegten Antrags reduziert die Beeinträchtigung auf ein notwendiges Maß.“

Befremdlich ist für die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen nicht der Vorgang beim LDA, sondern das Verhalten der Bezirksbehörde. Denn immerhin habe es im Jahr 2018 auch im Bezirk keine Bedenken gegeben – zur Erinnerung: Zu diesem Zeitpunkt lagen noch keine konkreten Planungen vor und die Kirche stand noch nicht unter Denkmalschutz. Senats-Sprecherin Katrin Dietl spricht gegenüber dem Tagesspiegel dennoch von einer „plötzlichen Ablehnung“ der unteren Denkmalschützer. Was sie nicht sagt ist, dass sich die Experten des LDA zunächst der Ablehnung anschlossen. Ob es korrekt ist, dass der zweite Planentwurf nur eingereicht worden sei, um einen Dissens zu konstruieren – und so die Genehmigung auf höherer Ebene zu ermöglichen? „Dies ist nichtzutreffend. Die Verschiebung des Baukörpers war vielmehr eine Reaktion auf die denkmalrechtlichen Anforderungen.“ Dass dem Leiter der Bezirksbehörde gedroht wurde, bestätigt Sprecherin Dietl – gibt aber zu bedenken: „Ob daraus wirklich disziplinarische Maßnahmen resultieren könnten, kann ich an dieser Stelle nicht beurteilen.“

„Es ist ein ungewöhnlicher Vorgang“, fasst Sabine Lappe, die Leiterin des Stadtplanungsamts Steglitz-Zehlendorf, den Denkmalschutz-Krimi zusammen. Sie findet nach wie vor, dass das MUF-Gebäude zu dominant sei, es „tritt wie so ein Tollpatsch“ in die Umgebung. Dass ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seitens des Senats mit Disziplinarmaßnahmen und Regressforderungen gedroht werde, „das kennen wir normalerweise nicht“. Für sie ist klar: Die Vorwürfe waren „an den Haaren herbeigezogen“.

Wie auch immer Sie die Genehmigungs-Geschichte bewerten mögen: In der letzten Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung nannte der CDU-Bezirksverordnete Clemens Escher den Vorgang einen „Skandal“. Meinen Bericht zur Debatte um den Runden Tisch für den Osteweg finden Sie online auf tagesspiegel.de. – Text: Boris Buchholz
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