Namen & Neues

Agenda 2020 für den Südwesten: Deutlich mehr gestalten, bitte

Veröffentlicht am 02.01.2020 von Boris Buchholz

Was tun Verwaltungen – in diesem wie in jedem Jahr? Sie verwalten. Sich, ihre Gemeinde oder Stadt, die Bürgerinnen und Bürger. Die Straße ist löchrig? Wir kümmern uns sobald es geht, versprochen, heißt es im Rathaus. Einen neuen Personalausweis? Aber gerne. Sie benötigen einen Kita-Gutschein oder Hilfen zur Erziehung? Wir sind Ihr Ansprechpartner. Heiraten im schönen Zehlendorfer Standesamt oder im Botanischen Garten? Bieten wir an. In den Rathäusern in Steglitz-Zehlendorf – die Bezirksverwaltung ist gleich in dreien sowie diversen Außenstellen tätig – werden den Bürgern hunderte „Produkte“, so heißt es im Amtsdeutsch, angeboten: von der Abmeldung einer Wohnung über die Baugenehmigung bis zur Anzeige wegen Zweckentfremdung von Wohnraum. All das erledigen die Staatsdiener für Sie, oft ohne Probleme, mal langsamer, mal schneller.

Doch von einem Bezirksamt darf man mehr erwarten als das reine Verwalten eines Bezirks. Die demokratisch gewählte politische Bezirksexekutive soll die Geschicke einer Berliner Region steuern, in der 308.697 Menschen leben und die 102,50 Quadratkilometer groß ist. Sie, die Bürgerinnen und Bürger, haben im Herbst 2016 bei den Wahlen zur Bezirksverordnetenversammlung (BVV) nicht besser bezahlte Amtsleiter bestimmt, sondern das politische Führungspersonal Ihrer Gemeinde, Ihrer Nachbarschaft, Ihres Kiezes gewählt. Seitdem lenken zusammen mit der Bezirksbürgermeisterin zwei Stadträtinnen und zwei Stadträte das Wohl und Wehe des Südwestens, kontrolliert und angeregt von den Bezirksverordneten. Das Problem ist nur: Wer steuern will, muss wissen, wo er oder sie hin möchte. Die Verwaltung darf verwalten; aber die Politik muss gestalten. Und daran hapert es in Steglitz-Zehlendorf. 

Beispiele dafür gibt es viele. Zwar wissen die Lokalpolitiker seit der Erarbeitung des Altenplans aus dem Jahr 2010 (einen neueren gibt es nicht), dass sich bis 2030 die Anzahl der Menschen über 80 Jahren im Bezirk verdoppeln und es einen stetigen Zuwachs an Hochbetagten geben wird. Aber statt gemeinsam mit Betroffenen und Experten an Konzepten zu arbeiten, wie modern-sozialisierte und aktive Menschen über 65 zufrieden im Bezirk wohnen und am gesellschaftlichen Leben der Stadt bis ins hohe Alter teilnehmen können, wird im Südwesten die Diskussion um den Standort einer Handvoll öffentlicher Wall-Toiletten mit Senioren-Politik verwechselt. Das letzte Seniorenforum im November hätte es der „Bezirksregierung“ und allen BVV-Fraktionen vor Augen führen können: Eine altengerechte Politik betrifft – wie eine kindergerechte Politik ebenso – alle Lebensbereiche. Von längeren Grünphasen für Fußgänger über für Rollstuhlfahrer, Kinderwagen-Schieber und Rollatoren-Nutzer taugliche Zugänge zu öffentlichen Räumen bis hin zu Straßenzügen und Grünanlagen, auf und in denen man sich sicher fühlen kann, profitieren Bürgerinnen und Bürger jeglichen Alters. Anstelle von Herzblut, Engagement und Gestaltungswillen referierten die Mitglieder des Bezirksamts jedoch schlicht Verwaltungshandeln. Eine Altenpolitik für das neue Jahrzehnt ist das nicht: Bisher gibt es zu viel Kaffee-und-Kuchen-Denken statt zukunftsweisender Konzepte für einen Südwesten der Generationen.

Noch viel zu tun: Klimapolitik und fairer Handel. Kaum anders sieht es bei der Klimapolitik aus. Dabei war Steglitz-Zehlendorf einmal in Berlin recht weit vorne: „In jedem größeren Dienstgebäude des Bezirkes wird eine ausreichende Zahl von Dienstfahrrädern für die Beschäftigten bereitgestellt und unterhalten.“ Das Zitat stammt nicht aus dem Wunschkanon von Fridays for Future, sondern aus den 2008 von BVV und Bezirksamt beschlossenen und gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern ausgearbeiteten bezirklichen Nachhaltigkeitszielen. In dem wegweisenden Papier setzten sich Politik und Verwaltung das Ziel, bis 2030 die eigene CO2-Freisetzung im Vergleich zu 1990 auf zwanzig Prozent zu reduzieren. Obwohl im bezirkseigenen Gebäudebestand eingespart worden sei, wurde jedoch schon im Sachstandsbericht aus dem Jahr 2016 festgestellt, dass es zwischen 2010 und 2014, „zu keiner Senkung der CO2-Emissionen im Bezirk gekommen ist“. 

Wie hoch der CO2-Ausstoß in Steglitz-Zehlendorf aktuell ist, ist – unbekannt. Neuere Erkenntnisse als die von 2016 (und die stammen aus dem Jahr 2014) gibt es nicht. Dienstfahrräder in jedem größeren Dienstgebäude gibt es auch nicht; seit elf Jahren sind die Nachhaltigkeitsziele beschlossene Druck-Sache. Sie dümpeln vor sich hin. Ebenso übrigens wie die Aktivitäten zum Fairtrade-Bezirk Steglitz-Zehlendorf – seit September 2018 ist der Südwesten die 554. Fairtrade-Town in Deutschland. In 2019 beteiligte sich der Bezirk mit zwei Aktivitäten an der bundesweiten „Fairen Woche“: Zum einen wurde mit der Bürgerstiftung des Bezirks ein Ideenwettbewerb für Schüler gestartet (Abgabefrist ist am 31. Januar). Zum anderen warb das Amt damit, dass der Eine-Welt-Laden der Zehlendorfer Paulusgemeinde in der Aktionswoche jeden Tag ein paar Stunden geöffnet war (das ist er sonst nur an drei Tagen). Das war’s. In Sachen Fairtrade und Klima gibt es nicht nur Luft, sondern eine ganze Atmosphäre nach oben.

Zeit, aktiv zu werden – und zu gestalten. „Ich habe kein Vertrauen in die Verantwortlichen.“ Das sagte mir kurz vor dem Jahreswechsel jemand, der sich als Bürger seit Jahrzehnten für stadtplanerische Veränderungen im Bezirk einsetzt – und sich aufreibt. Zu oft müsse das Amt zum Jagen getragen werden, eigene Visionen und der Blick auf das Ganze würden fehlen. Der Gedanke, was könnten wir Spannendes erreichen, wenn wir heute weiter denken und entsprechend planen würden, sei bei den Verantwortlichen nicht vorhanden.

Die Praxis bietet ausreichend Futter für diese Bedenken. Beispiel Sanierung, teilweiser Abriss und Neubau des Rathauses Zehlendorf, ein 75-Millionen-Euro-Projekt. Auf Basis der Machbarkeits- und Wirtschaftlichkeitsstudien der Verwaltung hat die Politik entschieden – die Bauteile B bis E werden neu gebaut. Doch bleibt die Debatte bisher der reinen Verwaltungslogik verhaftet, möglichst viele Büroräume für möglichst viele Mitarbeiter zu schaffen. Das ist für einen neu zu bauenden öffentlichen Ort im 21. Jahrhundert ebenso zu wenig wie für die langfristige Weiterentwicklung des kommerziellen Zentrums rund um den S-Bahnhof Zehlendorf. Warum nicht eine Galerie im neuen Rathausbau einplanen? Und Räume, die jede Bürgerin und jeder Bürger nutzen kann – von der Doppelkopfrunde über die Sitzungen von Bürgerinitiativen bis hin zum Literatursalon für jedermann?

Laufen Sie einmal durch die Rathaus-Gänge und danach über die Freiflächen hinter dem Verwaltungsbau: Das Gebäudeensemble samt Grundstück zwischen Martin-Buber- und Kirchstraße sowie Teltower Damm ist riesig – die fünf Bauteile füllen nur einen Teil der Fläche; auf dem Rest parken mitten in Zehlendorfs lebendigen Kern werktags Autos. „Wir wollen diese Flächen den Bürgern zurückgeben und dort die Möglichkeit für Geschäfte, Cafés und Erholungsflächen schaffen“, hieß es 2016 im Wahlprogramm der CDU. Doch in den Wirtschaftlichkeitsprüfungen des Bezirksamts zum Rathausneubau sind die Parkflächen als gegeben gesetzt – keiner der 300 Parkplätze werde wegfallen, erklärte Bezirksbürgermeisterin Cerstin Richter-Kotowski (CDU) bei der Vorstellung der Planstudien vor einem Jahr. In den kommenden Jahren wird ein Architekten-Wettbewerb für den Rathaus-Neubau ausgeschrieben – die Rahmenbedingungen setzt natürlich das Bezirksamt.

Nicht nur am zentralen Ort in Zehlendorf muss mit Sachverstand und Bürgerbegleitung gestaltet werden. Gleiches gilt für den bekanntesten Platz in Steglitz. Vor Jahren wurden auf dem Hermann-Ehlers-Platz aus Angst vor Obdachlosen alle Bänke abmontiert – was ungefähr genauso sinnvoll war wie vor Weihnachten das heimische Wohnzimmer leer zu räumen, damit sich die ungeliebte Tante nicht auf das gute Sofa setzen und lange bleiben kann. Seitdem wird geredet. Wie ein Eichhörnchen im Herbst sammelt das Bezirksamt seit zehn Jahren Platz-Ideen. Jetzt wieder: Die Bürger sind zu einem so genannten Ideen-Wettbewerb aufgefordert. Wie der gestaltet wird, wer entscheidet, was umgesetzt wird, wann das geschehen soll – all das ist unklar. Dabei fehlt es nicht an Ideen, sondern am Gestaltungswillen der Politik. 2020 könnte es sein, dass Bewegung in die Platz-Sache kommt. Denn Christoph Gröner – der Bauherr des Wohnturms im ehemaligen Steglitzer Kreisel ist zwar umstritten, aber er ist ein Macher – hat angekündigt, Verantwortung für das Umfeld des Turmes übernehmen und Geld investieren zu wollen. Zudem teilte Baustadträtin Maren Schellenberg (Grüne) im Herbst mit, es würden einige hunderttausend Euro für eine Platzumgestaltung bereit stehen.

Kreativ, zukunftsweisend, innovativ – 2020 wäre ein gutes Jahr, mehr politischen Gestaltungswillen zu zeigen. Damit Weichen gestellt und Chancen genutzt werden – den Südwesten nur verwalten zu wollen, reicht nicht aus.

Foto: Mike Wolff

Diesen Artikel haben wir dem aktuellen Leute-Newsletter aus Steglitz-Zehlendorf entnommen. Ihren wöchentlichen Tagesspiegel-Rundumblick aus Ihrem Bezirk können Sie ganz einfach hier bestellen: leute.tagesspiegel.de

Boris Buchholz berichtet diese Woche außerdem über diese Themen: +++ Die kritische Südwest-Agenda für 2020: Bitte deutlich mehr gestalten! Egal ob generationenfreundlicher Bezirk, Klimapolitik, Fairtrade oder der Rathausneubau – die Politik muss mehr wagen und aktiver werden +++ Bürgerinnen und Bürger haben die Gestaltungslücke der Bezirkspolitik längst erkannt: Die Menschen nehmen ihre Interessen selber in die Hand +++ Was man für die Zukunft lernt, wenn man auf dem Oberdeck einen Dreijährigen belauscht +++ Vor fünf Jahren flüchtete ihre Familie nach Berlin: Maria, 14, fühlt sich wohl in Lankwitz – sie liebt ihr eigenes Zimmer +++ Kunst aus Pferdehaaren und Politiker-Worthülsen +++ Überfüllte öffentliche Glascontainer: Über den Widerstand gegen die BSR und farbenfrohe Flaschen-Ästhetik in Südende +++ Wannseebahn und Stammbahntrasse erkunden und erwandern +++ Rapper-Hochburg Steglitz-Zehlendorf? +++ Für Jugendliche und Kinder: In den Winterferien neue Talente entdecken +++ Tegel-Chaos: Wie zwei Portugal-Reisende vor Weihnachten fast in Lichterfelde geblieben wären +++ Der große Straßencheck: Sagen Sie uns, wie Berlin künftig aussehen sollte +++