Namen & Neues

Wenn Hass und Verleumdung leise keimen: Beim Auschwitz-Thementag des OSZ Gestaltung sprach Knut Elstermann mit den Schülern über "Gerdas Schweigen"

Veröffentlicht am 30.01.2020 von Boris Buchholz

27. Januar, 10 Uhr, die Cafeteria der Wilhelm-Ostwald-Schule am Steglitzer Immenweg ist überfüllt – weit mehr als die einhundert angekündigten Schülerinnen und Schüler des Oberstufenzentrums für Gestaltung drängten in den Raum, standen auf der Galerie, warteten auf den Beginn des Thementages „75 Jahre Befreiung des KZ Auschwitz“. Und auf den Film. In „Gerdas Schweigen“ erzählt Gerda Schrage ihrem „Neffen“ Knut Elstermann – er ist „nur“ der Sohn ihrer besten Freundin – von ihrer Verfolgung durch die Nazis, weil sie jüdisch ist. Von der Deportation ihrer Eltern, von ihrer Verhaftung, von ihrer ersten Flucht, vom Leben im Untergrund – davon, dass sie aufgespürt und schwanger nach Auschwitz gebracht wurde. Sie erzählt von Sylvia, der Tochter, die im Vernichtungslager geboren wurde. Von den wenigen Tagen, die das Kind lebte. Der KZ-Arzt Josef Mengele hatte zwar die Geburt zugelassen, doch durfte Gerda Schrage ihre Tochter nicht stillen – Sylvia verhungerte in den Armen ihrer Mutter.

Als das Licht wieder anging, herrschte betretenes Schweigen im Raum. Gerda hatte Auschwitz überlebt, doch über das Erlebte schwieg sie; weder mit ihrem späteren Ehemann noch ihrem Sohn Steven teilte sie ihre schrecklichen Erinnerungen. Erst als 2004 ihr „Neffe“ Knut Elstermann, derweil Moderator und Kinoexperte von radioeins, sie in New York befragte, brach sie nach fast sechzig Jahren ihr Schweigen. 2005 erschien Elstermanns Buch „Gerdas Schweigen“, 2008 kam die Verfilmung, in ihr wird Gerdas Geschichte über die Buchveröffentlichung hinaus erzählt, in die Kinos.

Nach dem Film stand der „Neffe“ für Fragen bereit. „Wie kann die Mutter einem Fremden so etwas Schlimmes erzählen und nicht dem eigenen Sohn“, wunderte sich die 17-jährige Lea, sie besucht das Berufliche Gymnasium des Oberstufenzentrums, nach dem Film. Tatsächlich erfuhr Gerdas Sohn erst über das Internet und die Presseberichterstattung zum Erscheinen des Buches, dass er eine Schwester hatte. Im Film äußert er es klar: Für ihn sind die Deutschen Feinde; einen Volkswagen zu fahren, sei ein Verrat an den jüdischen Opfern der Nationalsozialisten. Dass seine Mutter ihm und nicht ihrem Sohn von Sylvia erzählt hat, „hat Steven sehr betroffen“, berichtet Knut Elstermann in der Diskussionsrunde im Anschluss an den Film. Ob sich Mutter und Sohn versöhnt hätten, wird Knut gefragt („sagt Knut zu mir, eigentlich siezt mich niemand“). Steven habe seiner Mutter nie verziehen, sie starb 2010. Er sei genauso Opfer der Nazis wie seine Mutter, merkt Knut Elstermann nachdenklich an, „wie viele der zweiten Generation“. Steven habe sich vor ein paar Jahren erschossen, „das gehört zur Wahrheit“. Dass durch seine Arbeit die Kluft zwischen Mutter und Sohn entstanden sei, „tut mir ehrlich leid“.

Ob es ein Grab für Sylvia gäbe, will eine Schülerin wissen. Nein, sagte Knut, die Asche der Toten liege überall in Auschwitz: „Ein Grab hätte Gerda bestimmt geholfen.“ Lea, Vanessa und Marie beschäftigte noch etwas anderes: Wiederholt wurde Gerda von Fremden geholfen – und zwar „obwohl sie überzeugte Nazis waren“. Ein Mann erkannte sie in ihrer Zeit im Berliner Untergrund und verriet sie nicht. 1945 ermöglichte ihr ein Soldat die Flucht aus dem KZ, er brachte sie in einer Nazifamilie unter. Knut Elstermann hat die Familie des zweiten Lebensretters ausfindig gemacht: „Dieser seltsame Mann hat immerhin einmal in seinem Leben etwas Richtiges getan.“ Die Familie habe sich später bei ihm bedankt, dass ihnen Knuts Recherche die Chance gegeben habe, im Leben ihres Vorfahren auch etwas Licht zu finden.

Vier Stunden lang nahmen sich die Schülerinnen und Schüler des OSZ – es war eine freiwillige Veranstaltung – an diesem Tag Zeit, sahen hin, fragten nach und hörten zu. Auch die Lehrer diskutierten mit: Was halte er vom Zwangsbesuch von Schülern in einem Konzentrationslager, wurde Knut Elstermann gefragt. Der verwies auf seine Jugend in der DDR und plädierte dafür, dass es kein zwangsweises Gedenken geben dürfe: „Jeder soll für sich entscheiden, wie er das Angebot nutzt.“ Und welche Erfahrungen habe er gemacht, als er „Gerdas Schweigen“ in einem Brandenburger Gefängnis einer Gruppe Neonazis vorstellte? „Die waren interessiert, die haben sich gefreut“, erzählt er. Allerdings seien sie auch vom Knastalltag so gelangweilt gewesen, „wir hätten auch einen Strickkurs machen können“.

Seine Erfahrung: Das Problem mit Rechtsextremen sei in der Regel nicht, dass sie die Existenz von Auschwitz bestreiten, „es ist diese verdammte Relativierung“. Im gleichen Atemzug wie die Vernichtung der Juden werde die Vertreibung der Deutschen angeführt und die Bombardierung deutscher Städte – „aber es hat nichts mit Gerda zu tun“. Mit AfD-Wählern spreche er, mit AfD-Politikern aber nicht: Die hätten sich ihre Partei bewusst ausgesucht.

Hier sieht Christian Kokalj, er ist Geschichtslehrer und Organisator des Thementags, die „etablierten Parteien“ in der Verantwortung, „sich nicht auf das Niveau der Rattenfänger zu begeben“. Er beobachte in der politischen Debatte, dass „Hemmungen fallen, der Dummheit wird Tür und Tor geöffnet“. Es mache ihn froh, dass so viele Schülerinnen und Schüler mit „Nachdenklichkeit und Zuhörbereitschaft“ zum Thementag gekommen seien. In diesem Schuljahr werde er mit einer 11. Klasse nach Prag fahren – ein Besuch in der Gedenkstätte Theresienstadt stehe fest auf dem Reiseprogramm.

„Wenn Haß und Verleumdung leise keimen, dann, schon dann heißt es wach und bereit zu sein. Das ist das Vermächtnis derer von Auschwitz.“ Das schrieb schon 1946 die jüdische Kinderärztin und Auschwitz-Überlebende Lucie Adelsberger. Der Medizinhistoriker Benjamin Kuntz, er arbeitet beim Robert-Koch-Institut, hatte den Schülerinnen und Schülern im zweiten Teil des Thementages von den Schicksalen zweier jüdischer Kinderärzte berichtet: von Gustav Tugendreich (er konnte rechtzeitig in die USA emigrieren) und von Lucie Adelsberger. In ihrem Buch „Auschwitz. Ein Tatsachenbericht“ heißt es: „Ein bißchen Salonantisemitismus, etwas politische und religiöse Gegnerschaft, Ablehnung des politisch Andersdenkenden, an sich ein harmloses Gemengsel, bis ein Wahnsinniger kommt und daraus Dynamit fabriziert.“

Hanna Giebert, die Leiterin der Wilhelm-Ostwald-Schule, entließ ihre Schüler mit einer Erfahrung und einem Gedanken: Sie habe eine Großmutter gehabt, die 1911 geboren wurde. Sie habe wissen wollen, wie ihre Oma der Nazizeit erlebt habe – „ich bin auf eine Wahnsinnswand des Schweigens getroffen“. Vielleicht trügen die Eindrücke des Thementags dazu bei, dass die Schüler bei ihren Eltern und Großeltern Fragen zur eigenen Familiengeschichte stellen: „Vielleicht ist Ihr Interesse geweckt, mehr darüber zu erfahren, was uns ausmacht.“ – Text: Boris Buchholz

+++
Dieser Text ist zuerst im Tagesspiegel-Newsletter für den Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf erschienen. Den gibt es einmal pro Woche – kompakt, kostenlos, kiezig und immer persönlich – in voller Länge unter leute.tagesspiegel.de.
+++
Meine weiteren Themen im aktuellen Tagesspiegel-Newsletter für den Berliner Südwesten – hier eine Auswahl.

  • „Hupen macht hässlich“ – Leser zum Hupkonzert
  • BVV-Debatte um fehlenden Schulentwicklungsplan: Das Schulamt wird (und kann) nicht planen
  • Wo hakt es in der BVV? Nur weil es von der SPD kommt, muss es nicht falsch sein
  • Südwest-Bilanz 2019: 464 Einbürgerungen, 198.577 Besucher im Bürgeramt… und wie viele Ehen?
  • Verantwortung in der Politik: Einen Ritter Tadellos gibt es nicht
  • Über den Tellerrand: Die Ärztin Dilek Sahin hospitierte vier Wochen in der Istanbuler Verwaltung – in Steglitz-Zehlendorf arbeitet sie im Gesundheitsamt
  • Wenn Hass und Verleumdung leise keimen: Beim Auschwitz-Thementag des OSZ Gestaltung sprach Knut Elstermann mit den Schülern über „Gerdas Schweigen“
  • Es wird ein Kaleidoskop der Künste: Ehemalige Studierende von Achim Freyer stellen aus
  • „The Magician’s Mother“: Wie die Migrationserfahrungen der brasilianischen Mutter Thomas Manns Werk geprägt haben
  • Theater: Deutsch-türkische Bunte Zellen bringen „Pausenspiele“ auf die Bühne
  • All Generations: Tanzfestival in Steglitz
  • Laufen Sie mit und lassen Sie mich nicht allein: Team Südwest startet beim Campus Run 2020!
  • …das alles und noch viel mehr Kiez-Nachrichten, Termine und persönliche Tipps finden Sie im neuen Tagesspiegel-Newsletter für den Bezirk – den gibt es in voller Länge hier: leute.tagesspiegel.de