Namen & Neues
Von „einfach nur Scheiße“ bis „ich habe mehr Zeit für mich“: Behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus dem Lankwitzer Pastor-Braune-Haus zu Corona
Veröffentlicht am 09.04.2020 von Boris Buchholz
Wie sich der Alltag durch den Coronavirus verändert hat? „Das Leben ist Scheiße!“, meint Leon, er ist 15 Jahre alt. Am meisten nerve ihn, „dass wir nicht raus dürfen wegen der Ausgangssperre“. Bayernboy2020, er ist 20, hat keine Angst vor dem Virus, „ich bin relativ entspannt in dieser Situation“, sagt er. Gut sei, dass er „viel mehr Zeit für mich“, für Musikmachen und chillen habe. Das mit der Zeit findet Sissi auch, dass es keine Schule gäbe und sie ausschlafen könne, sei doch gut. Aber: Gerne würde sie nach draußen gehen und ihre Eltern, ihr Zuhause, würde sie auch gerne besuchen. Auch Rettender Toast, 21 Jahre ist er alt, fehlen die Kontakte zu seinen Eltern – und seine Arbeit. Angst mache ihm der Gedanke, „dass meine Oma, Tante und Familie krank werden oder ich dadurch erkranke“. Sein Wunsch: „Ich wünsche mir, dass das Coronavirus weg ist und erstmal nicht wiederkommt und dass alle anderen Menschen daraus gelernt haben.“
Leon, Bayernboy2020, Sissi und Rettender Toast – sie durften sich für die Zeitung neue Namen ausdenken – wohnen im Pastor-Braune-Haus in Lankwitz. Im Wohnheim für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderungen leben, wenn man die betreuten Wohngemeinschaften und das Einzelwohnen dazurechnet, 112 Menschen. Die Coronakrise hat sie aus der Bahn geworfen: Schulen, Werkstätten, Angebote aus dem Beschäftigungs- und Förderbereich und Kitas sind geschlossen. Plötzlich müssen alle den ganzen Tag in ihren Wohngruppen bleiben. Es gilt ein generelles Besuchsverbot, auch die Kontakte zu Eltern, Freunden und Partnern sind untersagt.
„Die Gruppen sind strikt getrennt – übergreifende Kontakte sind nicht gestattet“, erklärt Nicole Weber, die Leiterin des Pastor-Braune-Hauses, das vom Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk getragen wird. „Die Garten- und Spielplatznutzung ist zeitlich geregelt, damit immer nur eine Gruppe den Bereich nutzt“, sagt sie. Alle gruppenübergreifenden Angebote sind abgesagt, auch selbst kochen, ist nicht mehr erlaubt: Die gesamte Essensversorgung ist wieder zentralisiert worden. Erstaunlich ist, was trotz der massiven Einschränkungen gut läuft: Die Atmosphäre in den Wohngruppen sei entspannt, die etwa 160 Mitarbeitenden seien „hoch engagiert“ und bereit „alles dafür zu tun, dass die Bewohnerinnen und Bewohner gut klar kommen mit dieser Situation“, so die Hausleitung. Auch die Flexibilität ihrer Kollegen sei bewundernswert, sie beweisen jeden Tag erneut ihre Kreativität.
Zugleich beobachtet Nicole Weber auch eine permanente Anspannung. Es sei nicht möglich eine Alltagsroutine zu etablieren, „jeder Tag muss neu gedacht werden, weil auf neue Entwicklungen zu reagieren ist“. Es gebe viele Personalausfälle, Schutzmaterialien würden fehlen, es gäbe keinen Nachschub. Von Pflegeheimen und Krankenhäusern werde oft geredet, die Menschen mit Behinderung und ihre Orte stünden „ganz hinten an“. Eine ihrer größten Sorgen sei, „dass Bewohnerinnen und Bewohner und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lebensbedrohlich erkranken“. Auch frage sie sich, wie sie bei zu hohen Personalausfällen „die Betreuung gesichert kriege“. Zwei Wünsche hat sie: „Dass alle die nötige Ruhe und Kraft haben, diese Krise durchzustehen“ und „dass die systemrelevanten Berufe nachhaltig aufgewertet werden“.

Bild: J.R.
Zurück zu den Bewohnern – J.R., 35, hat ein Bild gemalt: Ein Osterhase mit Mundschutz verteilt vor dem Pastor-Braune-Haus Eier, zwischen den Eiern und dem Osterkorb sitzt das Virus. Und vor dem Korb stehen Verbotsschilder mit den Aufschriften „Stop“ und „Halt“. Er dürfe „keine Familie mehr sehen, auch zu Ostern nicht“, berichtet er. Er würde sich wünschen, dass das Virus bald aufhöre und er im Juni zu „König der Löwen“ nach Hamburg fahren könne. Eine Sache störe ganz erheblich: „Es nervt, dass es im Fernsehen nur Corona gibt!“
Die Statements der Bewohnerinnen und Bewohner, die sie für den Tagesspiegel geschrieben und gemalt haben, sind berührend. Der zehnjährige Joschi findet gerade alles schlecht – vor allem, dass „ich jetzt nur hier bin und nicht zu Mama kann“. Der 12-jährige Jerry dagegen bleibt cool. Ob ihm das Virus Angst mache? „Eigentlich nicht.“ Er würde gerne einmal die Spieler von Hertha BSC treffen. K. K., 36, wiederum sagt zum Leben in der Corona-Zeit : „Das ist nicht schön. Mir ist nicht schön. Ich will meine Familie wieder sehen.“ Ein großer Wunsch von ihr ist, „dass Ostern Geschenke kommen“. Und Meerjungfrau, 32, würde gerne möglichst bald wieder arbeiten gehen.
Sehr häufig formulieren die Bewohner des Pastor-Braune-Hauses in ihren Antworten die Sorge um andere – weit über die Familie hinaus. Aladin, 27, hat zwar selber keine Angst vor dem Virus. Aber er wünsche sich sehr, dass es den Alten gut ergehe. Und Rettender Toast könnte wohl später ein sehr herzlicher Regierender Bürgermeister werden: „An alle, die in folgenden Berufen arbeiten: Feuerwehr, Polizei, Kassierer, in RTW und NEF, Landwirt, Altenpflege, Betreuer/in in öffentlichen Einrichtungen – ein dickes Dankeschön, dass die in der schweren Zeit da sind und arbeiten – danke, danke, danke.“
+++ Den Briefwechsel führte Boris Buchholz, der Sie jeden Donnerstag im Newsletter mit frischen Infos aus Steglitz-Zehlendorf versorgt. Anmeldung hier: leute.tagesspiegel.de
+++ Hier lesen Sie auch, wie es hinter den Kulissen der Corona-Hotline des Bezirks abläuft
+++ Und das sind die weiteren Themen der Woche im Newsletter:
- Ostersonntag: Glocken- und Trompeten-La-Ola im Südwesten
- Flüchtlinge: Arzt Norbert Mönter erzählt, wie traumatisierte Flüchtlinge mit der Corona-Krise umgehen
- Amtsärztin: Statt 20 müssen nur noch drei Kontaktpersonen pro Infizierten ermittelt werden
- Falsche Schilder: Posse um Parkplatz am Stadion Wannsee
- Skaterhockey: Die Red Devils gründen Online-Academy
- Frisuren der Krise: Susanne Riedel und Horst Evers erzählen Geschichten aus dem Corona-Alltag