Namen & Neues

"Mutanfall" für den "Neustaat": Interview mit Thomas Heilmann, der den Staat radikal reformieren will

Veröffentlicht am 25.06.2020 von Boris Buchholz

Die CDU-Bundestagsabgeordneten Nadine Schön und Thomas Heilmann – er ist zugleich Kreisvorsitzender der CDU Steglitz-Zehlendorf – fordern in ihrem Buch „Neustaat“ einen „Mutanfall“: Der Staat müsse sich dringend reformieren, um den Anforderungen von Digitalisierung, Klimawandel, Pandemien und anderen Zukunftstrends gewachsen zu sein. Auch in der Bezirksverwaltung müsste sich einiges ändern, würde man den Empfehlungen des Buches folgen. Mit dem Satz „Wir müssen bei uns selbst anfangen“, endet das 300-seitige Werk. Der Südwest-Abgeordnete und Buchautor Thomas Heilmann erklärt, wie das gehen könnte.

Thomas Heilmann, Foto: promo

Herr Heilmann, digital steht die Bezirksverwaltung auf dem Schlauch; Sie fordern in Ihrem Buch für die Bundesrepublik ein Digitalministerium mit weitgehenden Personalkompetenzen. Erwartet uns also nach der nächsten Wahl ein Digitalstadtrat? Das finde ich eine sehr gute Idee! Nur leider kann das der Bezirk, wie so vieles anderes, nicht selbst entscheiden. Rot-rot-grün hat gerade das einheitliche Bezirksamt beschlossen, in dem die Ordnung der Ämter vorgegeben ist.

Mehr digitales Können heißt ja nicht nur, mehr Computer und Drucker für die Verwaltung zu kaufen. Was muss sich dringend verändern, was fehlt bisher? Digitalisierung und eine effizientere Zusammenarbeit zwischen Behörden schafft man nur mit radikaler technischer Standardisierung von Software. Dafür müssen wir alles ändern: von der Beschaffung über die IT-Architektur bis zur Weiterbildung der Mitarbeiter. Das lässt sich leider nicht auf bezirklicher Ebene lösen.

Sie fordern nicht nur einen lernenden Staat, sondern auch lernende Beschäftigte. Was verbirgt sich dahinter? Transparente messbare Ziele für die Verwaltung und ihre Mitarbeiter und die laufende Überprüfung, ob man die Ziele erreicht. Dadurch verstehen alle Beteiligten, welche Maßnahmen wie wirken und können ihr Verhalten anpassen. Das ist das Gegenteil von dem, was der Senat beim Wohnungsbau produziert. Die städtischen Wohnungsbaugesellschaften bauen viel weniger Wohnungen, als sie sich ursprünglich vorgenommen haben. Allein die WBM nicht wie geplant 10.000, sondern vielleicht 3.000.

Besonders gut haben mir die Buch-Ideen gefallen, rein interne Stellenausschreibungen zu verbieten und eine Pflicht zur Rotation der Beschäftigten einzuführen. Und Führungskräfte müssen nachweisen, dass sie Ahnung von Computern, Datenbanken und Netzwerken haben. Was ist von den 103 Forderungen im Buch Ihr Favorit? Für mich sind natürlich alle 103 Vorschläge essentiell! Wenn ich mich für ein paar wenige entscheiden müsste, würde ich mich auf das Kapitel „Neue Gesetze“ fokussieren. Oft sind unsere Gesetze so kompliziert formuliert und voll mit unbestimmten Rechtsbegriffen, dass es in der Umsetzung dann nicht voran geht. Wir brauchen bessere Gesetze, die die komplette digitale Umsetzung und alle Schritte von Beantragung einer Leistung bis zum Bescheid schon vorweg planen und eindeutig formulieren. Wenn wir dann bessere und wirksamere Gesetze haben, hat das ja Auswirkungen auf alles andere.

Sie schreiben, dass Arbeitgeber, also das Bezirksamt, seine Mitarbeiter schätzen und deshalb schützen müsse. Mit Blick auf die Zustände im Rathaus Zehlendorf – Asbestfasern vor den Fenstern, Lüften schwer möglich; seit Jahrzehnten eklige Klos; dreckiges Leitungswasser und zwar nur kaltes; seit Jahren immer wieder ausfallende Heizung – scheint diese Forderung reine Science Fiction zu sein. Und immerhin regieren seit Jahrzehnten CDU-Bürgermeister den Südwesten … Na ja. Die unverantwortliche Sparpolitik in der Wowereit-Zeit hat den Bezirken praktisch keinen Spielraum gelassen. Weder bei den Stellen noch bei der Bezahlung noch bei der Ausstattung. Wir brauchen dringend einen Umbau des Rathauses.

Auch in anderer Hinsicht scheint Ihr Buch fern der aktuellen Realität zu sein: Jede Behörde, jeder Mitarbeiter soll sich für den Erfolg der ganzen Verwaltung verantwortlich fühlen? Kein Behörden-Ping-Pong mehr? Ja, was ist denn Ihr Bild von einer bürgerfreundlichen Behörde? Jeder kennt das doch aus eigener Erfahrung: Man beantragt etwas und bekommt immer nur Ansagen, dass das so nicht geht. Aber keiner sagt einem, wie und unter welchen Umständen es denn gehen könnte. Das wollen wir ändern, mit dem Recht auf eine rechtsverbindlichen Auskunft.

Sie wünschen sich außerdem eine Kultur in Verwaltung und Politik, die Fehler erlaubt – das ist doch realitätsfremd. Bisher warten doch die Parteien nur darauf, dass der Stadtrat der anderen Seite Fehler macht, damit man sie in der nächsten Sitzung des Bezirksparlaments abwatschen kann … In unseren Behörden wird oft nicht belohnt, wenn jemand Neues wagt und dabei Fehler macht. Wer Angst hat, keine Fehler machen zu dürfen, wird immer nur auf alten Pfaden wandern. Aber am Anfang von zukunftweisenden Innovationen stehen immer Fehler, aus denen man dann lernen und sich verbessern kann. Wir wollen, dass die Beschäftigten sich trauen, Fehler machen zu dürfen. Nur so wird die Verwaltung sich modernisieren können. Kinder lernen laufen, in dem sie losgehen und auch mal hinfallen. Aber stellen Sie sich vor, sie würden es nie ausprobieren…

Ich beobachte seit Jahren, dass die Bezirkspolitik und die Verwaltung den Status quo verwaltet und hier und da nachregelt – von großen Zielen merke ich kaum etwas. Ihr Vorschlag 67 lautet, die Politik müsse messbare Ziele formulieren. Warum sind Ziele wichtig? Wir Politiker verabschieden zu häufig Maßnahmen ohne vorher festzulegen, welche Ziele sie konkret erfüllen sollen. Wir brauchen transparente messbare Ziele und die laufende Überprüfung, ob man die Ziele erreicht. Deswegen schlagen wir im Buch „Neustaat“ vor, erst Ziele festzulegen, dann Gesetze zu verabschieden und den Erfolg der Gesetze anhand von vorher bestimmten Parametern zu messen. Brandschutzrichtlinien müssen zum Beispiel zur Eindämmung von Bränden führen. Erreicht ein Gesetz seine Ziele nicht, muss es nachjustiert werden oder seine Gültigkeit verfällt.

Stellen Sie sich vor, Sie würden bei den Wahlen 2021 Bezirksbürgermeister von Steglitz-Zehlendorf werden. Was würden Sie in den ersten hundert Tagen alles ändern? Das hängt davon ab, wer den Senat stellt. Radikale Neuerungen wird man nur mit der Landesebene zusammen hinbekommen. Momentan arbeiten wir dafür, die U3 vom U-Bahnhof Krumme Lanke zum Mexikoplatz zu verlängern, was der Senat bisher nicht unterstützt.

Sie sind prominentes CDU-Mitglied, 63 weitere konservative Abgeordnete stehen bereits hinter den Forderungen des Buches. Warum schreiben Sie Bücher statt den Staat wie vorgestellt zu verändern – Sie sind doch im Bund und im Bezirk in der Regierung? Wir halten das Buch für ein gutes Medium, mal ganz unverblümt und unabhängig den Ist- und Soll-Zustand des Staates aufzuschreiben und eine breite Öffentlichkeit für die Vorschläge zu gewinnen. Natürlich hat das alles erst etwas gebracht, wenn möglichst viele davon umgesetzt sind. Bisher läuft es gut: Einiges wurde schon kurz nach Erscheinen des Buches im Koalitionsausschuss beschlossen, Tag für Tag bekommen wir mehr Unterstützung von führenden Politikern.

„Neustaat“ ist im FinanzBuch Verlag erschienen und kostet 24,99 Euro.

Das Interview führte Boris Buchholz.

+++ Sie lesen einen Auszug aus unserem Leute-Newsletter für Steglitz-Zehlendorf. Jeden Donnerstag frisch in Ihrem Postfach – kostenlos hier anmelden: leute.tagesspiegel.de

+++ Die Themen der Woche:

  • Charité-Forscherin Franziska Briest hat ein Corona-Kinderbuch über das Händewaschen geschrieben: Die Fortsetzung für Erwachsene könnte „Harry Potter und die Quarantäne des Schreckens“, „James Bond – Intubation“ oder „Snotting Hill“ heißen
  • Brücken-Domino am Teltowkanal: Erst wird die Bäke- und dann die Knesebeckbrücke erneuert
  • „Niemand ist eine Echse“: Die Umsiedlung der Zauneidechsen im Baugebiet Lichterfelde-Süd schreitet voran
  • Mäusebunker könnte Kulturzentrum werden
  • Lichterfelde-West: Nachbarschaftsinitiative will den Paulinenplatz aus dem Dornröschenschlaf küssen
  • „Mutanfall“ für den „Neustaat“: Interview mit Thomas Heilmann
  • Flüchtlingsunterkunft Am Beelitzhof: Ärger um Einladung zum Tag der offenen Tür
  • Auf Wiedersehen, Maria Kottrup: Eine Schulleiterin zum Träumen
  • Zitadellen-Chefin: Geköpfte rassistische Skulptur ist jetzt erst recht ein Statement
  • Vom Platz-Theater bis zur „grünen Mandel“: Ideen für den Breitenbachplatz
  • Müll-Horror an Wannsee und Havel: Auch Du machst das Ufer sauber, Genosse!
  • Fußball-Aufstiege in der Corona-Saison: Stern 1900, Wacker Lankwitz, Steglitz GB und BFC Preußen feiern
  • Öko-Thriller an der Krummen Lanke: Wasserpflanzen vermehren sich dank der invasiven Quaggamuscheln rasant – und vermiesen das Schwimmen