Namen & Neues
Neue Studie der FU zum Wählen ab 16: "Eine Revolution stünde uns nicht bevor"
Veröffentlicht am 20.08.2020 von Boris Buchholz
Neue Studie der FU zum Wählen ab 16: „Eine Revolution stünde uns nicht bevor“. 2021 wird für Berlinerinnen und Berliner das Super-Wahljahr: Der Bundestag wird neu gewählt (oben beschreibt Nachbarin Nina Stahr als Erste, warum sie kandidieren möchte), die Mitglieder des Abgeordnetenhauses müssen bestimmt werden und auch im Bezirk geht es um die parlamentarische Wurst: Welche Parteien kommen in die Bezirksverordnetenversammlung? Wird die schwarz-grüne Zählgemeinschaft im Südwesten fortgesetzt? Wer wird Bürgermeisterin oder Bürgermeister zwischen Walther-Schreiber-Platz und Glienicker Brücke? Die Frage, was für und was dagegen spricht, junge Leute erst ab 18 Jahren ihre Volksvertreter bestimmen zu lassen, beschäftigte die Politikwissenschaftler Thorsten Faas und Arndt Leininger der Freien Universität Berlin – sie befragten 7.000 junge Menschen. Aus seinem Arbeitszimmer in der Dahlemer Ihnestraße berichtet Thorsten Faas, 45, (seine Tochter ist fünf, noch nicht wahlberechtigt, „allerdings mit starkem Mitbestimmungsdrang“) von den Ergebnissen der Studie „Wählen mit 16“.
Herr Faas, welche Risiken gäbe es, wenn das Wahlalter gesenkt würde? Die Risiken sind aus unserer Sicht überschaubar. Wir haben uns ja speziell die beiden Landtagswahlen im vergangenen Jahr in Brandenburg und Sachsen angeschaut, die zeitgleich am 1. September 2019 stattfanden. Vieles war in beiden Ländern ähnlich, aber eben ein zentraler Unterschied bestand: In Brandenburg durften die 16- und 17-Jährigen wählen, in Sachsen nicht. Das hat uns spannende Vergleichsmöglichkeiten eröffnet. Wenn wir uns das politische Interesse anschauen, dann liefern uns all diese Vergleiche praktisch keine Unterschiede – in beiden Ländern fanden wir schon bei 15-Jährigen ein recht ausgeprägtes Interesse an und Wissen über Politik. Eine Revolution stünde uns also mit einer weiteren Absenkung des Wahlalters auf 16 nicht bevor, dafür ist ja letztlich die Gruppe der 16- und 17-Jährigen auch viel zu klein. Eines muss man aber sehen: Die unterschiedlichen Regelungen auf Länderebene führen zu einem föderalen Flickenteppich, was nicht sehr ästhetisch und – wichtiger noch – den Betroffenen schwer zu vermitteln ist. Wie wollen sie jungen Menschen in Sachsen erklären, dass sie etwas nicht dürfen, was jenseits der Landesgrenze möglich ist?
Und welche Chancen böten sich durch eine Absenkung des Wahlalters? Ein wichtiges Argument in der einschlägigen Debatte ist, dass gerade bei Jüngeren noch bessere Informations- und Mobilisierungsmöglichkeiten bestehen, etwa über das Elternhaus oder die Schule. Das Wahlalter 18 ist so betrachtet durchaus problematisch, weil junge Menschen da in entscheidenden Übergangsphasen ihres Lebens sind, was zur Folge haben kann, dass Politik da in ihrer persönlichen Agenda nach unten rutscht.
Das heißt, Sie plädieren dafür, dass man das Abgeordnetenhaus oder den Bundestag schon mit 16 wählen können sollte? Das ist letztlich eine politische Entscheidung, die Parteien auch im Lichte der öffentlichen Meinung treffen werden. Gerade die öffentliche Meinung ist da durchaus skeptisch, auch wenn wir herausgefunden haben, dass die betroffenen 16- und 17-Jährigen in Brandenburg das abgesenkte Wahlalter gut finden. Die Frage ist aber natürlich schon: Wer ist eigentlich in der Begründungspflicht – diejenigen, die auf 16 runter wollen? Oder diejenigen, die bei 18 bleiben wollen? Wir wollten mit unserer Studie vor allem ein wenig Empirie in die ansonsten häufig sehr normativ geführte Debatte einführen – und finden dort wenig, was gegen eine Absenkung spricht.
Sie befürchten aber, dass hauptsächlich Jugendliche in bildungsnahen, bürgerlichen Schichten zur Wahl gehen könnten, Söhne und Töchter sozial schwacher Familien könnten den Wahlen fernbleiben. Was schlagen Sie vor, um das zu verhindern? Prinzipiell ist ein Wahlalter 16 besser, weil bessere Informations- und Mobilisierungschancen bestehen. Das stimmt und ist auch eine Chance, aber: Wahlalter 16 heißt ja nicht, dass alle auch wirklich wählen, wenn sie 16 oder 17 sind. Das hängt ja vom konkreten Wahltiming ab. Und dann ist eben die Frage: Wer ist denn mit 17 oder 18 noch in der Schule, wem kommen also die positiven Impulse aus schulischen und elterlichen Kontexte zugute? Das sind vor allem Schülerinnen und Schüler, die das Abitur anstreben. Die sind aber mit Blick auf Wahlen wahrlich nicht die Problemgruppe. So betrachtet muss man auch ganz gezielt über Berufsschulen und Projekte der politischen Bildung nachdenken, um für Ausgewogenheit zu sorgen.
Das sind doch aber Probleme, die auch Erwachsene haben: Vermutlich geht ein Lehrer oder Bankdirektor regelmäßiger wählen als ein Obdachloser oder ein Hartz-IV-Empfänger … Richtig, wobei wir auch das nicht schulterzuckend nur hinnehmen sollten, sondern auch hier immer wieder nachdenken sollten, was man dagegen tun kann. Eine Wahlpflicht etwa wäre hier eine sehr drastische, aber wohl wirksame Maßnahme. Der Punkt ist im Kontext der Wahlaltersdebatte, dass hier mitunter große Erwartungen formuliert werden, die man aber im skizzierten Sinne auch kritisch hinterfragen muss.
Im Bezirk dürfen junge Leute ab 16 Jahren schon länger die Bezirksverordneten wählen; doch vieles, was junge Menschen betrifft, wird im Abgeordnetenhaus entschieden – zum Beispiel die Digitalisierung der Schulen. Warum tut sich Berlin so schwer, das Wahlrecht auf 16 zu senken? Das „Problem“ ist die Berliner Landesverfassung, in der es heißt: „Wahlberechtigt sind alle Deutschen, die am Tage der Wahl das 18. Lebensjahr vollendet und seit mindestens drei Monaten in Berlin ihren Wohnsitz haben.“ Das Wahlalter hat also Verfassungsrang und ist entsprechend schwerer zu ändern. Dafür gibt es im Abgeordnetenhaus gerade nicht die nötige Mehrheit.
Hand auf die Wahlurne: Dieses Mantra, junge Leute seien noch nicht reif genug, ist das nicht eine Schutzbehauptung der Älteren, um vorhandene Strukturen, Gewohnheiten und Machtstrukturen zu erhalten? Manches Argument, das im politischen Raum angeführt wird, ist sicherlich auch machtpolitisch motiviert. Das ist nicht verwunderlich – Wahlrechtsfragen sind immer auch Machtfragen. Und wenn Parteien glauben, dass ihnen eine solche Maßnahme schadet, ist es ja durchaus nachvollziehbar, dass man da skeptisch ist. Da sollten wir uns alle ehrlich machen. Auf der anderen Seite sollte man den Einfluss einer solchen Maßnahme nicht überbewerten – da kommen zwei Jahrgänge hinzu, das wird die Zusammensetzung der Wählerschaft nicht auf den Kopf stellen. Und ein bisschen Verjüngung wäre in Zeiten des demografischen Wandels sicherlich bedenkenswert. – Text: Boris Buchholz
+++
Dieser Text erschien zuerst im Tagesspiegel-Newsletter für Steglitz-Zehlendorf. Die Tagesspiegel-Newsletter für die 12 Berliner Bezirke (mit schon über 220.000 Abos) gibt es kostenlos und in voller Länge unter leute.tagesspiegel.de – suchen Sie sich Ihren Bezirk aus!
+++
Mehr aktuelle Themen im Tagesspiegel-Newsletter für Steglitz-Zehlendorf – hier eine Auswahl
- So klappt die Verkehrswende nicht: Wenn Falschparker die E-Ladesäulen verstellen
- Nina Stahr will in den Bundestag: Die Rechte von Kindern und Jugendlichen werden zu wenig beachtet, sagt die Berliner Landesvorsitzende der Grünen
- Corona, Tests und Ordnungsamt – Bezirksverordnete diskutierten über Pandemie
- Der Kranz ist hochgezogen: An der umstrittenen Flüchtlingsunterkunft am Osteweg wurde Richtfest gefeiert
- Ferdinandmarkt: Keine guten Chancen für den Bauantrag von Harald Huth
- Zwei Pilotschulen erarbeiten erste Vorschläge für sicherere Schulwege: Runder Tisch eingerichtet
- Neue Studie der FU zum Wählen ab 16: „Eine Revolution stünde uns nicht bevor“
- Schlange an der Havel: Leser fotografierte eine Ringelnatter
- Sie kommt von Yad Vashem: Neue Direktorin für das Haus der Wannsee-Konferenz
- „God brass you“: Wieder Konzerte in der und um die Kultur-Kirche in Lichterfelde-Ost
- Der Tipp: Fahren Sie nach Stahnsdorf – zum künstlerischen „Ausflug ins Grüne“
- Gedenkkonzert für Leo Borchard
- Die regionale Fußballsaison hat begonnen: Viktoria 89 gewinnt in der Regionalliga, Hertha 03 will weiter nach oben, Stern 1900 ist glücklich in der Oberliga angekommen
- Südwest-Derby am 23. August: Stern gegen Hertha 03
- Wegen des R15-Events muss gemäht werden: Der Buschgraben ist der Regenwasserableiter Zehlendorf-Mittes
- und noch viel mehr im Tagesspiegel für Steglitz-Zehlendorf. Die Newsletter vom Tagesspiegel für die 12 Berliner Bezirke gibt es kostenlos und in voller Länge unter leute.tagesspiegel.de