Namen & Neues
Zu weit weg? Notunterkunft der Kältehilfe startet – in Wannsee
Veröffentlicht am 29.10.2020 von Boris Buchholz
Im Schnitt der vergangenen Woche schliefen täglich 474 wohnungslose Menschen in den Betten der Berliner Notübernachtungseinrichtungen. Nur 65 Kältehilfeplätze – etwa 540 gibt es zur Zeit in Berlin – blieben leer. Ab Sonntag, 1. November, kommen 18 Übernachtungsplätze im Südwesten hinzu: Das Sozialamt Steglitz-Zehlendorf startet in der Bergstraße 4 in Wannsee seinen Beitrag in der Kältehilfeperiode 2020/2021. Neuer Betreiber der Notübernachtung ist im Auftrag des Bezirks das Deutsche Rote Kreuz Südwest. Erst im letzten Winter wurde das Haus in Wannsee eröffnet, damals war noch der Internationale Bund verantwortlich.
Weniger Betten wegen der Pandemie. „Coronabedingt musste die Anzahl der Schlafplätze in diesem Jahr von zuletzt 30 auf derzeit 18 reduziert werden“, erklärt DRK-Sprecher Thomas Luthmann. Ins Haus komme man nur nach einer Temperaturmessung am Eingang, im Innenbereich herrscht Maskenpflicht. Neu sei, „dass der Betrieb mehrheitlich über ein ‚hauptamtliches Team‘ sichergestellt wird“. Das DRK habe dafür neun sozialversicherungspflichtige Jobs neu geschaffen. Unter den neuen Mitarbeitern „sind sogar einige aus Branchen wie dem Hotel- und Gaststättengewerbe, die durch die Coronakrise ihre Jobs verloren haben“, erklärt der Sprecher. Sie seien nach dieser „existenzgefährdenden Erfahrung“ hochmotiviert und würden sich umso mehr darauf freuen, mit den Gästen in Wannsee zu arbeiten.
Das DRK, genauer das Tochterunternehmen DRK Berlin Südwest Soziale Arbeit, Beratung und Bildung gGmbH, stünde auch ohne Corona vor Herausforderungen. Im Dezember 2019 waren die damals vom Internationalen Bund betreuten 30 Betten nur zu 30,1 Prozent ausgelastet – der schwächste Wert in ganz Berlin. Im Januar 2020 lag die Belegungsquote bei 31,1 Prozent, im Februar bei 27,7 Prozent. „Sollte die Einrichtung auch in dieser Saison nicht ausgelastet sein, möchten wir obdachlose Menschen direkt an ihren Plätzen im Steglitzer Stadtgebiet aufsuchen und auf das Angebot aufmerksam machen“, erklärt Thomas Luthmann. Außerdem solle das Team des Kälte- und Wärmebusses regelmäßig über freie Schlafplätze informiert werden.
Oder lag die geringe Nachfrage am abgelegenen Ort? „Ob die abgeschiedene Lage allein für die geringe Auslastung in der letzten Kältehilfesaison verantwortlich ist, können wir nicht einschätzen“, so Sprecher Luthmann. Er fährt fort: „Wir möchten in dieser Saison eigene Erfahrungen sammeln, wie gut der Standort angenommen wird.“ Allerdings: Der Blick aus seinem Bürofenster, die DRK-Geschäftsstelle befindet sich fast direkt am Hermann-Ehlers-Platz, lasse ihn vermuten, „dass es noch Bedarf für eine weitere Einrichtung in Steglitz-Zehlendorf gibt“.
Das sehen SPD und Linke ähnlich. In der Oktober-Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) stritten beide Parteien für einen zweiten, deutlich zentraler als Wannsee gelegenen Kältehilfe-Standort in Steglitz. „Die meisten Obdachlosen sind in Steglitz“, sagte der Linken-Fraktionschef Gerald Bader, „es kann doch nicht sein, dass der Bezirk diese Menschen im Stich lässt“. Ralf Fröhlich (CDU) bezog sich auf die berlinweite Zählung der wohnungslosen Menschen im vergangenen Winter als er sagte: „Wir haben gar nicht so viele Obdachlose.“ Mehr müsse nicht getan werden, war sein Fazit. Der sozialpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Sadullah Abdullah, machte die niedrigen Belegungszahlen der Vorsaison zum Thema – und setzte seine Hoffnungen auf den neuen Betreiber: „Wir wollen der Bergstraße die Chance geben, sich zu beweisen.“
Ab vom Schuss oder zentral gelegen – die Kältehilfe in Wannsee sei zwar „am Rand“, so Sozialstadtrat Frank Mückisch (CDU), „aber sie ist auch in der Nähe eines Obdachlosen-Hotspots: der Wannseebrücke“. Daher sei die Einrichtung „genau richtig“ platziert. Jetzt wolle er dem DRK ermöglichen, „den gesamten Standort zu entwickeln“. Die Diskussion um einen zweiten Standort erscheine ihm daher „viel zu verfrüht“. CDU, Grüne, FDP und AfD lehnten den Antrag, eine zweite Kältehilfe-Einrichtung in Steglitz zu schaffen, ab – SPD und Linke stimmten dafür.
Der Kommentar von der Pressebank: Über Jahre hat es gedauert bis das Sozialamt, seit 2015 führt es Frank Mückisch, eine eigene Einrichtung der Kältehilfe ins Leben rief (ich berichtete mehrfach, zum Beispiel hier). Treiber dieser Entwicklung waren eindeutig die Fraktionen von SPD und Linke. Seit 2015 haben beide Fraktionen 18 Anfragen und Anträge mit dem Betreff „Kältehilfe“ oder „Obdachlose“ gestellt. Zwei Initiativen starteten die Piraten (die letzte ist schon über vier Jahre her), zwei kamen von Bündnis 90/Die Grünen, je eine von FDP und AfD. Die CDU-Fraktion hat in den letzten Jahren kein einziges Mal die Kältehilfe im Bezirksparlament diskutieren wollen.
Insofern ist es ein sozialpolitischer Erfolg, dass das Übernachtungsangebot für 30 beziehungsweise 18 obdachlose Männer in der Bergstraße 4 überhaupt existiert. Allerdings: Selbst mit 30 Betten in Wannsee steuerte Steglitz-Zehlendorf im letzten Winter gerade einmal zwei Prozent des berlinweiten Kältehilfe-Angebots bei. Das Fazit der BVV-Debatte vom Linken-Frakionschef Gerald Bader überrascht mich deshalb nicht: „Der Umgang mit den Ärmsten dieser Gesellschaft ist in diesem reichen Bezirk skandalös und ein Armutszeugnis für bezirkliche Sozialpolitik! Wozu braucht es einen Sozialstadtrat, der sich um diese Klientel nicht kümmert?“ – Text: Boris Buchholz
+++
Dieser Text erschien zuerst im Tagesspiegel-Newsletter für Steglitz-Zehlendorf. Unsere 12 Tagesspiegel-Newsletter für die Berliner Bezirke haben schon 230.000 Abos. Suchen Sie sich Ihren Bezirk doch einfach aus – kostenlos unter leute.tagesspiegel.de
+++
Hier einige aktuelle Themen aus dem Tagesspiegel-Newsletter für Steglitz-Zehlendorf
- Lankwitz, der „vergessene“ Stadtteil – stimmt das?
- Corona und der Südwesten
- Alternativlose 7,5 Meter? Die Trasse des Fahrradschnellwegs am Ufer des Teltowkanals scheint festzustehen
- Zu weit weg? Notunterkunft für wohnungslose Menschen geht am Sonntag an den Start – in Wannsee
- Streit in der Südwest-CDU: Zwei unterlegene Bewerber für das Abgeordnetenhaus fechten parteiinterne Wahl an
- Geister-Teenie-Disko in der Ahornstraße: In das „Pop Inn“ könnte eine Kita einziehen
- Märchentage? Ab in den Koffer! Das Familienzentrum JeverNeun trotzt Corona und sendet Märchen in Schulen und Kitas
- Art Steglitz 2020 steht unter dem Motto „War da was?“
- Mann erschoss nervenden Buntspecht in Lichterfelde: Polizei machte Täter dingfest
- Hertha 03 Zehlendorf versus DFB: Amateurvereine sollen ab 2022 nicht mehr in den Jugendbundesligen vertreten sein
- Leserbitte: Kennen Sie Herta und Werner Krey?