Namen & Neues
Quo vadis, BVV? Das Bezirksparlament, Corona und Videokonferenzen
Veröffentlicht am 14.01.2021 von Boris Buchholz
Die Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung (BVV), des Parlaments von Steglitz-Zehlendorf, wurde im Dezember ersatzlos abgesagt – zwei Stunden vor Beginn. Ein Bezirksverordneter hatte sich mit dem Coronavirus infiziert, diverse Lokalpolitikerinnen und -politiker mussten in Quarantäne. Vor Weihnachten fiel eine Ausschusssitzung aus, in der ersten Januarwoche fand keine Ausschussitzung statt. Fest steht nach der jüngsten Sitzung des Ältestenrats am Mittwochabend, 13. Januar: Die BVV tagt als Präsenzveranstaltung am Mittwoch, 20. Januar, 17 Uhr, in der Zehlendorfer Pauluskirche – allerdings wieder nur mit 29 der gewählten 55 Bezirksverordneten.
Bisher fanden im Südwesten keine Ausschusstermine als Videokonferenzen statt, weder Ausschuss- noch Plenarsitzungen wurden gestreamt, die Forderung nach einer digital abzuhaltenden Parlamentssession wurde bisher von der schwarz-grünen Mehrheit im Hause als Zukunftsmusik abgetan. Das könnte sich jetzt ändern: Aller Voraussicht nach wird das Abgeordnetenhaus am heutigen Donnerstag das „Gesetz zur Änderung des Bezirksverwaltungsgesetzes zur Sicherstellung der Arbeitsfähigkeit der Bezirksverordnetenversammlungen in außergewöhnlichen Notlagen“ verabschieden – Sitzungen per Internetstream inklusive. Quo vadis, Steglitz-Zehlendorf? Wie geht die parlamentarische Arbeit in Corona-Zeiten weiter? Tagt das Bezirksparlament bald digital? Ich fragte bei den Fraktionen nach.
Es fehle an Rechtsgrundlage, Technik, Geld. CDU-Fraktionsvorsitzender Torsten Hippe verweist bei der Frage nach digitalen Sitzungen auf die bisher fehlende Rechtsgrundlage. Zudem seien seitens des Landes weder für die technischen Mittel noch für die Finanzierung gesorgt. Es gebe seitens der Senatsinnenverwaltung auch keine Empfehlung für stabil laufendes Softwareprogramm. „Sollen wir eine Klage vor dem Oberverwaltungsgericht eines Bürgers gegen einen in einer Onlinesitzung verabschiedeten Bebauungsplan, die ‚problematisch‘ verlief provozieren, verlieren und damit ein ganzes Bauvorhaben vereiteln, beispielsweise Lichterfelde-Süd?“, fragte er zurück. Die meisten Videokonferenzsysteme seien von der Berliner Datenschutzbeauftragten als nicht datenschutzkonform eingestuft worden, „sollen wir uns wissentlich über diese Einschätzung hinwegsetzen?“ Sein Fazit: „Das bedeutet, dass auf absehbare Zeit keine befriedigende Lösung zur Verfügung steht.“ Und wie stehe er als ersten Schritt zu einem Videostream aus den Sitzungen? „Videostreaming mag Journalisten die Arbeit erleichtern, was nicht gegen Videostreaming spricht“, erwidert Torsten Hippe. Allerdings habe er „persönlichkeitsrechtliche Bedenken“, auch die Kosten – er schätzt sie auf 10.000 Euro im Jahr – wolle er nicht rechtfertigen müssen. Für die CDU habe die Digitalisierung von Bürgerdienstleistungen Priorität: „Wenn das geschafft ist, können wir obendrauf auch noch Verbesserungen für die Bezirksverordneten und die an den Sitzungen der BVV Interessierten anbringen.“
Wenn nicht digital, dann also Sitzungen analog und in Präsenz? „Präsenzsitzungen sollten nach unserer Einschätzung nur im notwendigen Umfang stattfinden“, so Torsten Hippe. Wenn Rechte Dritter berührt werden, sollte zum Beispiel getagt werden. Sollte jedoch eine Fraktion eine Sitzung wünschen, werde die CDU kommen: „Die Sitzungen sind gerade für die bezirklichen Opposition auch Kontrollmöglichkeit des Bezirksamtes, es steht daher unseres Erachtens der CDU-Fraktion nicht zu, die Opposition in ihren Kontrollrechten zu beschneiden.“
Ob die SPD eine Oppositionspartei ist oder nicht, sei dahingestellt (auch wenn schwarz-grün die Mehrheit hat, entsendet die SPD zwei Stadträte in das Bezirksamt). „Ich sehe derzeit Präsenz-Ausschusssitzungen kritisch“, erklärt Fraktionsvorsitzender Norbert Buchta. Einzelne wichtige Sitzungen wie vom Haushalts- oder Stadtplanungsausschuss könnten im großen Bürgersaal tagen, „um das System der Bezirkspolitik am laufen zu halten“. „Die Januar-BVV würde ich absagen“, erklärt er aufgrund der aktuellen Virus-Lage. Digitale Sitzungen und Videostreaming? Ja und ja. Aber: „Cerstin Richter-Kotowski, Maren Schellenberg, CDU und Grüne, haben daran kein Interesse und haben immer wieder tolle Ausreden, warum das nicht geht“, während andere Bezirke mit Erfolg online tagen, schimpft er. „Mir fehlt hier bei den Verantwortlichen im Bezirk und der Zählgemeinschaft der Wille, dies anzupacken und umzusetzen.“ Und: „Wären wir im Bezirk experimentierfreudiger, wären wir bereits in digitaler Sitzung.“ Durch das kommende Gesetz werde im Frühjahr zwar der rechtlichen Rahmen durch Änderungen in der Geschäftsordnung auch im Südwesten geschaffen werden. Aber Norbert Buchta ist bei der praktischen Einführung von Livestream und digitaler BVV skeptisch: „Ob es in dieser Wahlperiode umgesetzt wird, bezweifele ich. Meine Hoffnung ist, dass wir in die neue Wahlperiode damit starten können.“
Mit Hochdruck an der digitalen BVV arbeiten. Für die Grünen sind Präsenzsitzungen „aufgrund der stark gestiegenen Infektionszahlen und der Ausbreitung der neuen Mutante nicht verhältnismäßig“, erklärt Fraktionsvorsitzende Tonka Wojahn. Allerdings: „Nach aktueller Gesetzeslage ist es leider unvermeidlich, Bebauungspläne und anderes in Präsenzsitzung zu beraten und zu beschließen.“ Ihre Fraktion habe sich für die Absage der BVV in der kommenden Woche eingesetzt, das sei „unter den jetzigen Pandemiebedingungen vernünftig“. Ohne Erfolg. Wie sieht es mit Online-Sitzungen und Videoübertragung aus? Tonka Wojahn hofft, dass mit dem neuen Gesetz die Grundlagen für digitale Sitzungen geschaffen werden. „Nach der Verabschiedung der Gesetzesänderungen werden wir mit Hochdruck dran arbeiten“, sagt sie. Viele Bezirke hätten bereits Erfahrungen bei der Umsetzung gemacht, „so dass wir davon schöpfen können“.
Auch Peer Döhnert, Vorsitzender der AfD-Fraktion, baut auf das neue Gesetz aus dem Abgeordnetenhaus: „An der technischen Implementierung hapert es allerdings noch, weil die Zeit seit Ausbruch der Pandemie von den zuständigen zentralen Stellen nicht mit der notwendigen Konsequenz zur Bereitstellung entsprechender Systeme genutzt worden ist.“ Seine Fraktion wünscht sich in Steglitz-Zehlendorf jetzt „ein konsequentes und beschleunigtes Vorgehen, um auch in der BVV die Digitalisierung endlich voranzubringen“.
Dafür, dass die BVV am 20. Januar nicht abgesagt wurde, steht ein Parteikürzel: FDP. „Die BVV ist nicht abgesagt, weil wir, die FDP, dem widersprochen haben“, erläutert Mathia Specht-Habbel, die Fraktionsvorsitzende der Südwest-Liberalen. Mit digitalen Tagungsformaten hat sie ihre eigenen Erfahrungen gemacht: Die Sitzung des Ausschusses für Bildung und Kultur, sie hat dort den Vorsitz, wollte die FDP-Politikerin Anfang Januar als digitale Veranstaltung durchführen, das „wurde vom kulturpolitischen Sprecher der CDU aber abgewehrt“. Warum das Rathaus Zehlendorf eine digitale „terra incognia“ sei, erklärt die Politikerin so: „Frau/man der Zählgemeinschaft kennt keine Eile, seit zehn Monaten tut man/frau so, als sei es nur noch eine Woche, ein Monat abzuwarten, dann sei alles vorbei.“ Während andere Bezirke Lösungen gefunden haben, sei in Steglitz-Zehlendorf „seit Anfang April“ Zeit vergeudet worden.
Unterstützung fand die FDP im Ältestenrat wohl bei den Linken, als es um die kommende Sitzung der BVV ging. „Wir bestehen nicht auf Präsenz, aber wir fordern ein, dass Formate gefunden werden, damit die Handlungs- und Beschlussfähigkeit der BVV und ihrer Ausschüsse gewährleistet ist“, nimmt Fraktionsgeschäftsführerin Pia Imhof-Speckmann für ihre Fraktion Stellung. Zum Beispiel hätten die Linken einen Antrag für zusätzliche Wärmestuben eingebracht, der im Dezember hätte entschieden werden müssen – „im April oder Mai nutzt das keinem mehr!“. Bei der Digitalisierung sieht sie eine „Blockade“: „Wenn Fraktionen oder Verordnete vor die Frage gestellt werden, ob der oder der Ausschuss als Videokonferenz stattfinden soll, damit er stattfinden kann, und dann ein Nein kommt, dann verstehen wir das nicht mehr.“ Mit dem Beschluss des Abgeordnetenhauses scheine nun aber Bewegung „in die Sache“ zu kommen: „Wir sind bereit für viele Kompromisse.“ – Text: Boris Buchholz
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