Namen & Neues
"Geschichte um die Ecke": Schüler aus Zehlendorf und Lankwitz forschen zu ihren jüdischen Nachbarn
Veröffentlicht am 10.06.2021 von Boris Buchholz
43 Seiten ist das Heft dick, es ist die Jahresarbeit von Bruno, einem 14-jährigen Schüler der 8. Klasse der Zehlendorfer Emil-Molt-Schule. Sein Thema: Das Schicksal von 14 jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn zu erforschen, es ist eine Stolperstein-Recherche. Später grenzt er seine Forschungen auf sechs Pesonen ein: Charlotte und Wolf Malinowksi, Anna und Otto Levy sowie Alice und Johanna Hertz, heißen „seine Personen“. Sie wurden nach Auschwitz, Treblinka und Theresienstadt deportiert, alle sechs wurden von den Nazis umgebracht.
Der Schüler besuchte ihre letzten bekannten Wohnorte in Zehlendorf, studierte Transportlisten und Karteikarten, Dokumente der Gestapo und Vermögenserklärungen, die die Verfolgten vor ihrer Deportation dem Finanzamt vorlegen mussten. Auch Anträge auf Entschädigung, die Angehörige der ermordeten Opfer in der Nachkriegszeit stellten, sah Bruno ein. Er hat viele hundert Seiten studiert, musste teilweise seinen Opa bitten, ihm beim Entziffern zu helfen. 128 Stunden und 35 Minuten hat seine Recherche gedauert; Bruno hat akribisch Buch geführt.
„Vor meiner Jahresarbeit hatte ich mich noch nie so intensiv mit Einzelschicksalen in der Nazizeit beschäftigt“, schreibt er. Anne Frank war ihm ein Begriff, das Buch „Ein Haus für alle“ hatte er gelesen. Doch erst jetzt seien ihm die Schicksale richtig bewusst geworden: „Wann und wo sie geboren worden sind, wann sie geheiratet haben, wo sie ihr Wohnhaus erworben und eingerichtet haben, (…) wie sie ausgegrenzt, gedemütigt und unter Druck gesetzt worden sind.“ Bei den Recherchen fand er Wohnorte in seiner Zehlendorfer Nachbarschaft, die Adresse eines Zeugen genau gegenüber von seinem Wohnhaus. „Ich wohne also dort mitten drin, wo es geschah.“
Auch etwa neun Kilometer weiter östlich, in Lankwitz, forschten Schülerinnen und Schüler über ihre jüdischen Nachbarn. Zwei Geschichtskurse der elften Klasse des Beethoven-Gymnasiums haben eine Stolperstein-Ausstellung erarbeitet – im Fokus steht die Familie Hohenemser. Richard und Alice Hohenemser wohnten gleich neben dem heutigen Schulgelände in der Havensteinstraße 26. Über Alice Hohenemsers Beruf und ihre Ausbildung konnten die Schüler nichts in Erfahrung bringen, später gab sie Klavierstunden, um die Familie zu unterstützen. Ihr Mann Richard, ein Jude, war Musikwissenschaftler und blind. Sohn Kurt wurde protestantisch getauft, wie seine Mutter. 1942 brachten sich Richard und Alice Hohenemser in ihrer Wohnung gegenüber der Schule um – aus Angst vor den Nazis, der drohenden Deportation, der Ermordung.
Die 36 Schülerinnen und Schüler forschten in zwölf Arbeitsgruppen zur Biographie der Familie. Angeregt hatte das Projekt eine Mutter, drei Geschichtslehrer des Gymnasiums griffen die Initiative auf. Die Elftklässler beschäftigten sich mit der NS-Diktatur, setzten sich mit der Rehabilitation von Widerstandskämpfern auseinander, mit Euthanasie, erstellten eine Chronologie der Judenverfolgung in Berlin und fragten nach dem Antisemitismus heute.
„Es war Augen öffnend“, sagte die 17-jährige Borbala beim Besuch des Tagesspiegels im Lankwitzer Gymnasium. Wenn man sonst im Geschichtsunterricht vielleicht nur mit halbem Ohr anwesend sei, „war es nicht möglich, da wegzuschauen“. Beim Unterichtsprojekt „Stolpersteine“ habe sie Entsetzen und Trauer gespürt. Selber zu konkreten Personen und Schicksalen zu recherchieren, „das gibt auch noch mal so eine Nähe“, es sei nicht so abstrakt wie das Lernen aus Büchern. Für Hannah, 17, war die Willkür des NS-Systems erschreckend gewesen – und die Eugenik, das Töten angeblich unwerten Lebens. Richard Hohenemser hatte sich auch wissenschaftlich mit seiner Blindheit und der Eugenik befasst, zum Recht auf Fortpflanzung hatte er sich schon 1925 geäußert. „Man vergisst häufig, dass die Nazi-Ideologie irgendwoher kam und dass sie nicht plötzlich da war“, meint Hannah.
Für Laura, 16, ist durch den Unterricht Geschichte „auch mal praktisch geworden“, es sei „Geschichte um die Ecke“. Ihre Sitznachbarin Emilia, 17, sagt: „Da wurden Menschen zu Objekten gemacht.“ Dem wollten sich Richard und Alice Hohenemser entziehen. „Sie haben den Gashahn aufgedreht, um der Deportation zu entgehen“, sagt Marielle, 16.
Im Gespräch wird deutlich, dass die Vergangenheit viel mit der Gegenwart zu tun hat. Beispiel Wahlerfolg der AfD in Sachsen-Anhalt: „Dass der Holocaust nur ein Fliegenschiß der Geschichte sei, solche Auffassungen dürfen nicht sein“, findet Hannah. „Ich finde das unglaublich erschreckend.“ Borbala würde gerne wissen, „warum viele Menschen AfD gewählt haben“, man müsse „an den Kern herangehen und ihn argumentativ bekämpfen“. Zudem: „Solange sie nicht als verfassungsfeindlich eingestuft sind, sind sie Teil der Demokratie“, ergänzt Hannah.
In ihrer Ausstellung haben die Schüler auf der Tafel „Antisemitismus heute“ geschrieben: „Ethische und gesellschaftliche Grenzen werden immer weiter überschritten und auch verzerrt. Es wird heutzutage deutlich mehr geduldet, beziehungsweise ignoriert, als es noch vor fünf bis zehn Jahren der Fall war. (…) Der Antisemitismus stellt in Deutschland ein immer größeres und ernsteres Problem dar.“ Verantwortlich für diese Tafel waren Maximilian, Florian und Kerem.
Geschichte konkret. An die Familie Hohenemser in Lankwitz, an Charlotte und Wolf Malinowksi sowie Alice und Johanna Hertz in Schlachtensee soll erinnert werden. In den nächsten Tagen finden folgende Stolpersteinverlegungen statt:
- Montag, 14. Juni, 11 Uhr: In der Straße Am Schlachtensee 38 wird an Charlotte und Wolf Malinowksi erinnert.
- Montag, 14. Juni, 11.45 Uhr: Am gleichen Tag wird in der Ahrenshooper Zeile 43 Alice und Johanna Hertz gedacht. Zu diesen beiden Verlegungen schrieb Bruno dem Tagesspiegel: „Es sollen möglichst viele Menschen trotz Corona an der Verlegung teilnehmen.“ Fühlen Sie sich eingeladen. Um die Kosten von 120 Euro pro Stein zu sammeln, hatte der Schüler eine Spendenaktion gestartet – mit Erfolg.
- Dienstag, 15. Juni, 17 Uhr: Die AG Spurensuche in Schlachtensee verlegt einen Stolperstein für Anna Goldbaum: Sie hat in der Prinz-Friedrich-Leopoldstraße 31 gewohnt.
- Mittwoch, 16. Juni, 11 Uhr: Zwei Stolpersteine werden für Richard und Alice Hohenemser vor der Havensteinstraße 26 in den Gehweg eingelassen. Die Schüler und Lehrer des Beethoven-Gymnasiums werden vor Ort oder aus der Ferne an der Verlegung teilnehmen.
- Mittwoch, 16. Juni, 12.15 Uhr: 1944 wurde er in Auschwitz ermordet – für Neddy Dzcubas, Berliner Kürschner und Pelzhändler, wird in der Spinozastraße 1 ein Stolperstein verlegt.
Mehr über Stolpersteine in Steglitz-Zehlendorf erfahren Sie auf der Website projekt-stolpersteine.de, die von den Evangelischen Kirchenkreisen Teltow-Zehlendorf sowie Steglitz getragen wird.
Text: Boris Buchholz
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