Namen & Neues
Spätes Gedenken an Clara und Richard Semmel: "Die deutsche Geschichte ist auch die Geschichte einer Erinnerungsabwehrgemeinschaft"
Veröffentlicht am 03.03.2022 von Boris Buchholz
„Wir haben eine Demokratie, wir haben gleiche Rechte – all das war 1933 für Richard Semmel nicht mehr vorhanden als er von einer Geschäftsreise zurückkam“, sagte der Historiker Julien Reitzenstein am vergangenen Donnerstagnachmittag bei einer Gedenkveranstaltung für das jüdische Unternehmerpaar Clara und Richard Semmel im Rathaus Zehlendorf. Schon am Bahnhof sei Richard Semmel davor gewarnt worden, in seine Wohnung zurückzukehren – das Ehepaar hatte sich in der damaligen Cecilienallee 19/21, heute heißt sie Pacelliallee, ein Haus bauen lassen.
Es ist ein schlossartiges Anwesen, es „wirkt vornehm, aber nicht protzig“, so der Historiker Reitzenstein. 1933 flohen die Semmels aus ihrem Haus, aus Dahlem, Berlin, Deutschland. Erst lebten sie in Amsterdam, ihre Flucht endete in New York. Das Haus und die umfangreiche Gemäldesammlung der Semmels waren verloren; von den Nazis zum Verkauf gezwungen erhielt das Paar nur einen Spottpreis – durch Steuern und Gebühren blieb nicht eine Mark vom Verkauf der Villa. Käufer war Lebensmittelfabrikant Wilhelm Kühne, Gesellschafter der Carl Kühne KG. 1950 starb Richard Semmel verarmt in den USA.
Spätes Gedenken. 2019 war Julien Reitzenstein auf das Schicksal des Ehepaars Semmel aufmerksam geworden. An der Pacelliallee 19/21 gab es bisher keinen Hinweis auf die jüdischen Erbauer und Bewohner des stattlichen Hauses. Seit vergangener Woche ist das anders: Nach der Gedenkveranstaltung im Rathaus verlegte Pfarrer Michael Rohrmann vom Projekt Stolpersteine des evangelischen Kirchenkreises Teltow-Zehlendorf vor ihrem ehemaligen Wohnhaus für Clara und Richard Semmel zwei Stolpersteine. Zuvor hatten Nachfahren der Semmels auf dem Bürgersteig eine Gedenktafel enthüllt – die Künstlerin Helga Lieser hat sie gestaltet, ihre Informationstafeln aus Glas oder Metall sind in der gesamten Stadt zu finden.
„Endlich“ und „jetzt erst“. „Endlich wird sein Schicksal öffentlich erinnert, endlich entsteht ein breites Bewusstsein für Enteignung, Verfolgung und Vertreibung von Richard Semmel durch das nationalsozialistische Regime“, sagte Samuel Salzborn, der Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus, bei der Gedenkveranstaltung. Er setzt ein „Jetzt erst!“ hinzu.
„Die deutsche Geschichte ist auch die Geschichte einer Erinnerungsabwehrgemeinschaft“, mahnte er: „Schuldverleugnung, Erinnerungsabwehr und Täter-Opfer-Umkehr sind nicht nur Probleme der Vergangenheit, sie sind gegenwärtig.“ Gedenken sei nichts Abstraktes, denn „Antisemitismus ist ein Weltbild, das jederzeit konkrete Folgen hat, die Diskriminierung, die Verfolgung, die Vernichtung sind im Weltbild angelegt“. Clara und Richard Semmel mussten fliehen und verloren alles, Richards Bruder und seine Schwägerin wurden in Auschwitz ermordet. „Ihrer zu erinnern ist eine unverzichtbare Aufgabe für heute, für morgen und für die Zukunft“, so Samuel Salzborn.
Gesamtkonzept für die Pacelliallee. „Die Gedenktafel soll der erste Schritt für die Allee des Gedenkens in der Pacellialle sein“, sagte Bezirksbürgermeisterin Maren Schellenberg (Grüne). Benannt ist die Straße in Dahlem nach Papst Pius XII, bürgerlich Eugenio Pacelli (1876-1958): Er hatte sich über Jahrzehnte antisemitisch und frauenverachtend geäußert, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verhalf er Nazi-Massenmördern zur Flucht. Im August 2021 hatte die Bezirksverordnetenversammlung einen Antrag der FDP beschlossen, die Pacelliallee nicht umzubennen, sondern in eine „Allee des Gedenkens“ umzuwandeln, ein „Geschichtslehrpfad“ solle entstehen. Den Bericht meiner Kollegin Lotte Buschenhagen finden Sie hier.
Zur Zeit arbeiten Stephan Lehnstaedt vom Berliner Touro College mit Studierenden an einem Konzept für die Straße. „Der Nationalsozialismus war ein gesamtgesellschaftliches Projekt der Deutschen“, erläuterte er bei der Gedenkfeier. „Protestiert oder gar Widerstand geleistet haben die Allerwenigsten. Profitiert oder zumindest zustimmend zugesehen – viel zu viele. Gezwungen dazu wurde niemand.“ Worte, die nachdenklich machten. „Ich habe mich sehr oft gefragt, wie ich mich in der damaligen Zeit verhalten hätte“, sagte die Fraktionsvorsitzende der FDP, Mathia Specht-Habbel – sie hat sich maßgeblich in der BVV für die „Allee des Gedenkens“ eingesetzt. „Ich hoffe, das ich widerständig geworden wäre, aber ich weiß es nicht.“
Sichtlich bewegt waren die Erben von Clara und Richard Semmel bei der Enthüllung der Gedenktafel, sie waren zur Feier aus Südafrika angereist. Gegenüber dem Tagesspiegel wollten sie sich nicht äußern; auch ihre Namen sollten nicht genannt werden. Gemeinsam mit Reiner Strecker, dem Vorsitzenden des Beirats des Unternehmens Carl Kühne aus Hamburg, zogen sie das dunkelblaue Tuch von der hochaufragenden Tafel. 1934 hatte Wilhelm Kühne die Villa Semmel für einen Spottpreis gekauft, 1952 kam es zu einer Nachzahlung an die Erben Richard Semmels. 1955 verkaufte die Familie Kühne das Haus an die katholische Schwesternschaft Aquinata weiter.
Verantwortung. „Als Vorsitzender des Beirats der Carl Kühne KG ist mir die Erinnerung an Richard und Cläre Semmel wichtig“, sagte Reiner Strecker am Straßenrand. Er sei froh, dass das Unternehmen einen Beitrag zum Gedenken leisten konnte: Die Herstellungs- und Aufstellungskosten der Gedenktafel sind von seiner Firma übernommen worden. Am Ende der Veranstaltung sprach Rabbiner Bryan Weisz ein Kaddisch, ein Totengebet: „Erhoben und geheiligt, sein großer Name, in der Welt, die er erneuern wird.“ Hebräische Gebete ertönen selten in der Pacelliallee 19/21. In der Villa hinter der Tafel residiert heute Lukman Abdulraheem A. Al-Faily als irakischer Botschafter. Seit 1948 befindet sich sein Land offiziell im Kriegszustand mit Israel.