Namen & Neues
Für jede Gebärende eine Hebamme: Ein Plädoyer für eine bessere Geburtshilfe
Veröffentlicht am 12.05.2022 von Boris Buchholz
Warum werden eigentlich 98 Prozent aller Kinder in Deutschland in einer Klinik geboren? Warum steigt die Zahl der ärztlichen Eingriffe an – auch wenn es Kind und Mutter gut geht? Warum wird das Ziel, dass jede Gebärende 1:1 von einer Hebamme betreut wird, in der Praxis nicht eingehalten? Diese und mehr Fragen hallten am vergangenen Freitag durch den Saal der Zehlendorfer Kirche zur Heimat: Prof. Dr. Beate Schücking hielt anlässlich der Einweihung der neuen Übungsräume des Studiengangs Hebammenwissenschaft, des Skills Lab (siehe Intro), an der Evangelischen Hochschule Berlin am Teltower Damm die Festrede – und sprach manche unangenehme Wahrheit aus. Bis Ende April war sie Rektorin der Universität Leipzig, seit 41 Jahren ist sie in der Praxis und Wissenschaft der Geburtshilfe tätig. Wir dokumentieren ihren Vortrag in Auszügen:
„Deutsche Geburtshilfe heute – das ist immer noch eine auch im unkomplizierten Fall ärztlich dominierte Geburtshilfe, die zudem kontinuierlich und seit 1990 erheblich angestiegene Raten von medizinischen Interventionen aufzuweisen hat. Geburtshilfe in Deutschland, heute – das bedeutet auch, dass die ‚harten Daten‘ der kindlichen und mütterlichen Sterblichkeit enorm niedrig sind, die geburtshilfliche Praxis sich also rühmen kann, gute Ergebnisse abzuliefern. Dies wird gerne in Verbindung mit den hohen Interventionsraten gesehen, quasi, als ob es der Preis wäre, der eben zu zahlen ist. Sicherheit hat ihren Preis?
Falls ja: Weshalb ist die außerklinische Geburtshilfe genauso sicher? Die nun seit mehr als 27 Jahren im Rahmen der Qualitätssicherung außerklinischer Geburten erhobenen bundesweiten Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Außerklinisch zu gebären ist sicher. Natürlich nur für die ‚unkompliziert zu erwartenden‘ Geburten, die von den außerklinisch arbeitenden Hebammen in Betreuung genommen werden – aber auch in der Klinik gebären vor allem junge, gesunde Frauen.
Gestiegenes Kaiserschnittrisiko. Es kann nachdenklich stimmen, dass das grundsätzliche Kaiserschnitt-Risiko für eine Schwangere, die die Geburt von vornherein in der Klinik plant, seit mehr als 25 Jahren kontinuierlich angestiegen ist auf etwa die doppelte Wahrscheinlichkeit: von 15 auf circa 30 Prozent. In der außerklinischen Betreuung, auch unter Einbeziehung der erfolgten Verlegungen in die Klinik, geht sie weiterhin ein nur sehr geringes Risiko für eine Schnittentbindung ein. Es liegt dort deutlich unter zehn Prozent. …
98 Prozent aller Geburten werden in Deutschland in Kliniken von Hebammen betreut. … Der Deutsche Hebammenverband hat unlängst zwölf Thesen für Gute Geburtshilfe entwickelt. Ich – als Ärztin – empfinde diese gut formulierten Thesen als quasi Hippokratisches Gelöbnis. Oder sollten wir es nach Phainarete, der Mutter des Sokrates, eine der ältesten bekannten Hebammen, benennen? Natürlich sollte dieses ‚Gelöbnis‘ nicht nur für Hebammen, sondern für alle an Geburtshilfe Beteiligten gelten:
- Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett sind natürliche und besonders schützenswerte Vorgänge im Leben von Frauen.
- Schwangere und Mütter haben in diesen Lebensphasen das Recht auf eine respektvolle und individuelle Betreuung und Begleitung durch Hebammen.
- Hebammen unterstützen bei diesen natürlichen Lebensprozessen. Sie schützen, wahren und fördern die körperliche und seelische Gesundheit der Frauen und ihrer Kinder. Dies steht an oberster Stelle bei jeder Begleitung durch Hebammen.
- Jede Geburt und jede Frau haben ihren eigenen Rhythmus – sie bekommen die Zeit, die sie benötigen.
- Damit jede Frau an einem von ihr selbst gewählten Ort gebären kann, muss ihr ein ausreichendes Angebot an Betreuungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.
- Schwangeren und Gebärenden steht jederzeit ein geschützter Raum, die Wahrung ihrer Intimsphäre sowie Verschwiegenheit zu.
- Während der Geburt hat jede Frau das Recht, kontinuierlich durch eine Hebamme begleitet zu werden, die sich ausschließlich um sie kümmert. Eine solche Eins-zu-eins-Betreuung wird von jeder Hebamme angestrebt.
- Hebammen erfüllen alle ihre Aufgaben bestmöglich unter den gegebenen Umständen und unabhängig von wirtschaftlichen Interessen.
- In den natürlichen Geburtsvorgang sollen Hebammen und Ärzte nur eingreifen, wenn die Gesundheit der Frau oder des Kindes bedroht sind.
- Frauen haben das Recht, vor jedem Eingriff in das Geburtsgeschehen verständlich und nachvollziehbar darüber aufgeklärt zu werden, was genau passieren wird. So können sie gemeinsam mit denjenigen, die sie betreuen, informierte und verantwortungsvolle Entscheidungen über ihren Körper treffen.
- Die Werte von Frauen und ihre Entscheidungen sind zu respektieren.
- Die Stärkung der Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten der Frauen stehen im Fokus aller Überlegungen und allen Tuns.
Diese Sätze klingen so einfach, so selbstverständlich, und doch wissen alle von uns hier im Raum, die sich mit praktischer Geburtshilfe gut auskennen, wie schwer es gerade heute ist, alle diese Aspekte zu berücksichtigen, in Handeln umzusetzen. Eins-zu-eins-Betreuung beispielsweise: Die Betreuungsschlüssel sind ein jahrelanger Streitpunkt, Hebammenmangel ist Alltag in den meisten Häusern. Der Respekt vor der Frau und dem physiologischen Ablauf der Geburt, der in den zwölf Maximen zum Ausdruck kommt, der gesundheitsfördernde Ansatz – all das hoffen wir, in einem nun auch in Deutschland an Hochschulen verankerten, wissenschaftlichen Studium mit hohem Praxisanteil umgesetzt zu sehen. […]
Immer wieder höre ich die Frage: weshalb brauchen Hebammen denn jetzt ein Studium? … Die deutsche Hebammenausbildung fand bisher an Berufsfachschulen statt. Diese Lehre war grundsolide. Aber sie gab dem Beruf keine Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln, die eigene Praxis wissenschaftlich zu hinterfragen, und anhand dieser Ergebnisse zu verbessern! … Eine wissenschaftlich ausgerichtete Hebammenausbildung schafft die Möglichkeit, dass geburtshilfliche Physiologie in den Mittelpunkt rückt, dass das Fach selbst seine Fragen entwickelt, untersucht und in die Praxis umsetzt. …
In Deutschland wäre es noch in den 1990-er Jahren undenkbar gewesen, dass Hebammen beispielsweise die Leitlinie zur normalen Geburt mitdiskutieren und -verantworten. Jetzt ist dies möglich, weil es inzwischen deutsche Hebammenprofessorinnen gibt, die die notwendige Expertise und das wissenschaftliche Standing haben. Solche Professuren garantieren ja nicht nur die forschungsorientierte Ausbildung, sondern sie sind auch der Garant für die künftige Nachwuchsgewinnung an den Hochschulen. Sie können in der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung auch die künftige Entwicklung ihres Fachs prägen. […]
Ein Frontalvortrag wie meiner hier, so was von ‚old school‘, kann da vergleichsweise nur langweilen – auf ins Skills Lab! Liebe Studierende, liebe Lehrende, meine herzliche Gratulation, dass Sie jetzt eines eröffnen.“
- Foto: Christian Hüller / Universität Leipzig