Namen & Neues

Babys, die keinen Versicherungsschutz haben: Am Teltower Damm werden sie trotzdem behandelt

Veröffentlicht am 15.12.2022 von Boris Buchholz

Jetzt ist die kleine Patientin gegen Diphtherie, Kinderlähmung, Keuchhusten, Tetanus, Hepatitis B und invasive Hib-Infektionen geimpft – dafür schreit das dreimonatige Baby nach den beiden Nadelstichen zum Erbarmen. 5600 Gramm ist der Säugling schwer, 60 Zentimeter ist das Mädchen lang. Auch die Vorsorgeuntersuchung, es stand die U4 an, zeigt keine Auffälligkeiten: Kinderarzt Burkhard Schütte und Sozialberaterin Iris Jungmann sind zufrieden. Die Eltern des Säuglings auch, sie sind Vietnamesen, einen Dolmetscher haben sie zum Arztbesuch gleich mitgebracht.

„Sie müssen die Impfung in zwei Monaten wiederholen lassen“, erklärt der Kinderarzt. „Dann haben wir vielleicht auch die Gesundheitskarte“, sagt der Vater, „aber das Standesamt braucht so lange.“ Bisher ist das Kind nicht krankenversichert. Deshalb ist die vietnamesische Familie – aus welchem Bezirk sie kommen, ist unbekannt; sie bleiben anonym – in der Ambulanz für Menschen ohne Krankenversicherung vorstellig geworden. Betrieben wird die Hausarzt-ähnliche Praxis vom Verein „Medizin hilft“ und der gemeinnützigen milaa gGmbH des Diakonievereins Zehlendorf. Die Ambulanz liegt mitten in Zehlendorf: Im Souterrain des Teltower Damms 8a, im Gemeindehaus der Paulusgemeinde.

Die Gründe, warum Säuglinge über keinen Versicherungsschutz verfügen, sind mannigfaltig. Größtes Problem ist in der Regel die fehlende Geburtsurkunde, ohne die die Eltern von der Krankenversicherung keine Versichertenkarte für das Kind erhalten. „In der Regel kommen zu uns in die Kindersprechstunde vietnamesische Mütter mit ihren Babys, die deutsche Väter haben“, sagt Projektleiterin Dorothea Herlemann beim Tagesspiegel-Besuch in der Ambulanz. Die erste Hürde sei, „einen Notar zu finden, der die Vaterschaft beurkundet“; nur wenige Notare würden sich dafür finden. Gibt es Zweifel an der Vaterschaft, wird die Ausländerbehörde beziehungsweise das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten informiert. Dort wird geprüft, ob der Vater wirklich der Erzeuger des Nachwuchses ist; hat die Behörde Zweifel, dauert die Prüfung länger. Schließlich muss das zuständige Standesamt die Geburtsurkunde ausstellen. Nicht selten gehe das erste Lebensjahr des Kindes ins Land, bevor die Frage nach der Krankenversicherung geklärt ist.

Oft sei nicht so richtig klar, woran die Verzögerungen lägen, so Projektleiterin Herlemann. Zum Beispiel könne es für einen Namen mehrere Schreibweisen geben; weicht der Name jedoch auf einem Dokument von dem auf einem anderen ab, stockt der amtliche Bearbeitungsprozess – und es entsteht eine Versorgungslücke. Natürlich trage die Überforderung der Standesämter zum Zeitverzug bei. Und auch selbst wenn beim Amt alles in Ordnung ist und die Geburtsurkunde vorliegt, kann es dauern, bis Post von der Krankenkasse eintrifft: Die AOK Nordost komme mit der Produktion der Gesundheitskarten kaum hinterher, weiß Dorothea Herlemann.

Dass zur Zeit so viele vietnamesische Eltern in die Sprechstunden kommen, liege am guten Netzwerk innerhalb der Berliner vietnamesischen Community, ist sich das Team der Ambulanz sicher. Die Information, dass in Zehlendorf auch Kinder ohne Krankenversicherung versorgt werden, spricht sich herum.

Doch auch Kinder mit Gesundheitskarte werden vom Team behandelt. „Durch die Infektionswelle finden Familien, die neu in der Stadt ankommen, keinen Kinderarzt, es fängt jetzt wieder an“, sagt Dorothea Herlemann. Aktuell herrsche ein „Ausnahmezustand“, deshalb kämen auch Versicherte zur Ambulanz für Unversicherte. In anderen Fällen verweisen die Kinder- und Jugendgesundheitsdienste der Bezirke Neugeborene und Kinder an die Ambulanz: Hüftsonographien als Teil der Vorsorgeuntersuchung U3 können in den Ämtern nicht durchgeführt werden. Also finden die Ultraschalluntersuchungen im Teltower Damm 8a statt. Und geimpft wird dort auch gleich; bis September übernahm das Gesundheitsamt Steglitz-Zehlendorf die Kosten für den Impfstoff, egal aus welchem Bezirk die Kinder kamen.

Das Personal der Ambulanz arbeitet bis auf drei Teilzeitangestellte ehrenamtlich. Der Kinderarzt Burkhard Schütte ist 74 Jahre alt und bereits seit Jahren in Rente. Etwa 50 Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte, Medizinstudierende und andere Helferinnen und Helfer gehören zum Kernteam der Freiwilligen und arbeiten für lau für das Projekt. Unregelmäßig unterstützen circa 100 weitere Ehrenamtliche die Arbeit. Da nicht alle Erkrankungen vom jeweiligen Team in der Ambulanz diagnostiziert und behandelt werden können, hat „Medizin hilft“ ein Netzwerk von Fachärztinnen und -ärzten aufgebaut. Von der Gynäkologie über die Orthopädie bis zur Psychiatrie reicht das Spektrum.

Denn es sind nicht nur Kinder, die im Zehlendorfer Souterrain versorgt werden. Der Altersdurchschnitt der Patientinnen und Patienten liegt bei 30 Jahren, knapp 40 Prozent der Hilfesuchenden sind minderjährig. Im Jahr 2022 sind bisher über 4800 Personen über die Hotline beraten worden. In 270 Sprechstunden wurden etwa 2440 Patientengespräche geführt, 559 Patientinnen und Patienten waren dieses Jahr zum ersten Mal in der Ambulanz.

Die größte Gruppe machen dabei die Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft aus: Es sind 35 Prozent aller Patientinnen und Patienten. „Das sind zum Beispiel Menschen, die privat versichert waren und die Beiträge nicht mehr leisten konnten“, sagt Dorothea Herlemann. Es würden viele Selbständige kommen, deren Geschäft nicht mehr laufe. Andere würden aus Angst vor weiteren finanziellen Belastungen den Kontakt zu Ämtern und Kassen scheuen. „Oft ist es möglich, die Situation der Betroffenen zu verbessern und sie wieder der Regelversorgung zuzuführen“, erläutert die Projektleiterin, „aber es kann Monate dauern.“ Es sei das Ziel des Projekts, die Menschen wieder in das Regelsystem zu bringen. Sozialberatung ist neben der medizinischen Versorgung ein wichtiger Schwerpunkt des Projekts.

Doch manchmal ist die Rückkehr ins System nicht möglich. Dorothea Herlemann nennt das Beispiel eines Selbständigen, der nicht mehr seine private Krankenversicherung bezahlen konnte. Erst mied er jahrelang jede Arztpraxis, als er mit Taubheitsgefühlen in den Fingern, Konzentrationsschwächen und Beschwerden in den Füßen in die Ambulanz für Menschen ohne Versicherungsschutz kam, lautete die Diagnose: Diabetes. Doch weil er noch 13.500 Euro Schulden bei seiner privaten Krankenkasse hatte und er keinen „Krankenversicherungsverlauf“ vorlegen konnte, zahlte die AOK nicht für ihn – obwohl das Jobcenter bereits Beiträge für ihn leistete.

Für andere gibt es von vorneherein keinen Weg ins System. Menschen ohne Aufenthaltsstatus machen etwa ein Fünftel der Patienten aus. Auch EU-Bürger aus Rumänien und Bulgarien kommen in die Ambulanz; wenn sie kein offizielles Arbeitsverhältnis nachweisen können, also schwarz arbeiten oder ohne Job sind, fällt das deutsche Krankenkassensystem für sie aus.

Großer Bedarf bei der mentalen Gesundheit. Unabhängig vom Aufenthaltsstatus stellt das Ambulanz-Team einen steigenden Bedarf nach psychiatrischer und psychotherapeutischer Betreuung fest. Etwa die Hälfte der Patientinnen und Patienten mit Flucht- oder Migrationsgeschichte leiden unter akuten psychischen Erkrankungen wie Posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, chronischen Schmerzen oder Angstzuständen. Was für versicherte Berlinerinnen und Berliner schon schwierig sei, nämlich einen Therapieplatz zu finden, sei für Zugereiste und Unversicherte fast unmöglich. Hinzu kämen die Sprache und Kulturunterschiede als Hürden. Zumal auch ein legaler Aufenthaltstitel teilweise die Behandlung im Regelsystem unmöglich macht: „Wenn Ihre Duldung nur noch einen Monat gilt und Sie sie regelmäßig erneuern müssen, werden Sie kein Glück haben, eine langfristige psychiatrische Behandlung zu erhalten“, so Expertin Dorothea Herlemann. Gerne würde das Team die Angebote im Bereich mentale Gesundheit erweitern – auch um betroffene wohnungslose Menschen besser versorgen zu können. Doch dafür fehlen Ehrenamtliche und die nötigen Finanzen.

Das Geld. Die Arbeit wird seit der Gründung der Ambulanz im Jahr 2016 über Spenden finanziert. Im vergangenen Sommer konnte das Projekt einen politischen Meilenstein feiern: Erstmals sind für die Jahre 2022 und 2023 im Haushalt des Landes Berlin 180.000 Euro für die Arbeit der Ambulanz vorgesehen. Allerdings konnte dadurch, dass der Haushalt erst im Sommer beschlossen wurde, nur ein Teil des Geldes ausgezahlt werden – seit Oktober läuft die Förderung. Trotzdem: Die Kosten für die Versorgung der Menschen ohne Versicherungsschutz sind damit bei weitem nicht gedeckt. „Wir sind immer darauf angewiesen, dass viele Spenden bei uns eingehen“, sagt Projektleiterin Herlemann.

Auch über weitere Ehrenamtliche würde sie sich freuen. „Wir suchen aktuell dringend nach Orthopäden“, diktiert sie dem Besucher von der Presse in die Feder. „Auch im Bereich Psychiatrie suchen wir händeringend nach Unterstützung, der Bedarf ist groß.“ Sorgen um die Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten müssen sich die Ehrenamtlichen nicht machen. Bei Terminsprechstunden werde mit Sprachmittlern gearbeitet, sagt die Projektleiterin. Fehle einmal ein Übersetzer vor Ort, wird die medizinische Dolmetsch-Hotline „Triaphon“ zu Rate gezogen: Per Anruf kann in neun Sprachen übersetzt werden – von Arabisch bis Ukrainisch.

Das klappt sehr gut. Kinderarzt Burkhard Schütte befragt mit dem laut gestellten Telefon die vietnamesische Mutter einer weiteren Patientin, sieben Monate ist das Kind alt. Nachdem das Mädchen Haselnussbrei gegessen habe, habe es Ausschlag bekommen, übersetzt die ferne Dolmetscherin die Sorgen der Mutter. Ob es eine Allergie habe? Glaube er nicht, antwortet der Arzt, für einen Allergietest sei es allerdings auch zu früh. Er empfiehlt der Mutter, eine Haselnussbreipause einzulegen und frühestens in einem halben Jahr noch einmal zu probieren, ob das Kind die Nüsse vertrage. Noch einen Blick in den Mutterpass, dann die Erinnerung, „im Mai steht die nächste Impfung und die U6 an“. Aus dem Telefonhörer schallt die Übersetzung.

In der zweistündigen Kindersprechstunde zwischen 11 und 13 Uhr seien neun Kinder bestellt gewesen, gibt am Empfang Luci Haslberger Auskunft, hauptsächlich zu Vorsorgeuntersuchungen. Die Erziehungswissenschaftlerin arbeitet als Werksstudentin in der Ambulanz. „Momentan kommen sehr, sehr viele Menschen“, sagt sie.

  • Sie erreichen die Ambulanz für Menschen ohne Krankenversicherung montags bis freitags unter der Telefonnummer 0176 / 63 15 20 94. Für die Kindersprechstunde ist eine Terminvereinbarung nötig. Allgemeine Sprechstunden finden dienstags zwischen 16 und 18 Uhr und donnerstags zwischen 13 und 18 Uhr statt. Die Ambulanz befindet sich in Zehlendorf-Mitte am Teltower Damm 8a. Mehr auf der Website: medizin-hilft.org
  • Spenden an: Medizin hilft e.V.; IBAN DE30 1004 0000 0446 01; BIC COBADEFFXXX. Spenden sind steuerlich absetzbar.
  • Fotos: Peter Groth / Boris Buchholz (3)