Namen & Neues
Wenn aus Wochen Jahre werden: Große Belastungen für private Gastgeber für Menschen aus der Ukraine
Veröffentlicht am 28.09.2023 von Boris Buchholz
Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine angriff, waren die Folgen des Krieges schnell auch in Berlin zu spüren: Tausende Menschen flohen vor den russischen Truppen und den Bombardements auf Städte und Dörfer nach Deutschland. Die Berlinerinnen und Berliner halfen, sorgten für Essen, Informationen, Mobilität – und Unterkunft. Das Willkommensbündnis Steglitz-Zehlendorf geht davon aus, das weit über 1000 Ukrainerinnen und Ukrainer, vor allem Frauen und Kinder, bei privaten Gastgebern im Südwesten untergekommen sind — und zu einem Großteil auch immer noch in den Gästezimmern und Einliegerwohnungen leben. Die meisten der Gastgeber würden das Mit-Wohnverhältnis nach bis zu anderthalb Jahren wohl gerne wieder beenden; doch die Chancen auf eine eigene Wohnung stehen für die Neu-Berlinerinnen und -Berliner schlecht. Das ergab eine aktuelle Studie, die das Willkommensbündnis am gestrigen Mittwoch vorstellte.
„Die Unterbringung zuhause ist eine große Herausforderung“, sagt Günther Schulze, einer der Sprecher des Willkommensbündnisses bei der Präsentation im Café der Schwartzschen Villa. Das Bündnis hatte private Wohnungsgebende – von der Privatperson bis zur Kirchengemeinde – im Frühjahr gebeten, einen Fragebogen auszufüllen; 35 Bögen, die etwa 327 Betreute repräsentieren, kamen zurück. Repräsentativ ist die Umfrage damit nicht; wohl aber gibt sie Hinweise.
Die meisten der Gastgeber gaben an, dass die Zugezogenen aus der Ukraine zwischen März und September 2022 zu ihnen gekommen wären. Was als kurzfristiges Wohnangebot begann, wurde zur Dauereinrichtung. „Ein Auszug erscheint ihnen aufgrund der prekären Wohnungssituation in Berlin jedoch quasi unmöglich“, heißt es in der Studie. „Dies belastet sowohl Gastgebende als auch Beherbergte.“ 57 Prozent der Gastgeber hoffen auf einen baldigen Auszug der neuen Mitbewohner: Sie kreuzten an, dass eine baldige Änderung der Wohnsituation sehr wichtig oder wichtig sei. Die Rubrik „Gar nicht wichtig“ kam nur auf elf Prozent.
Neben dem mangelnden Wohnraum erschwert eine eigentlich positive Entwicklung den Auszug: Die Menschen sind in Steglitz-Zehlendorf angekommen, die Kinder gehen hier zur Schule oder zur Kita, die Wege und Ansprechpartner, Beratungsangebote und Treffpunkte von Landsleuten sind bekannt und angenommen. „Die Leute tun sich schwer, den Bezirk zu verlassen“, sagt die ehrenamtliche Studienleiterin Alexandra Kattein, die Sozialarbeiterin arbeitet gerade an ihrer Promotion in Erziehungswissenschaften. Sie betont auch die psychologischen Hintergründe: „Man muss sich vorstellen, dass die Menschen aus dem Krieg an einen sicheren Ort kamen; dieser sichere Ort ist ein rettender Anker. Den gibt man nicht so leicht auf.“ Wohnungen in Steglitz-Zehlendorf seien daher heiß begehrt – und kaum zu bekommen.
„Wir haben im ganzen bisherigen Jahr eine einzige Wohnung vermitteln können“, sagt Günther Schulze. Und Sozialstadtrat Tim Richter (CDU), der bei der Vorstellung der Studie dabei ist, ergänzt: „Große Wohnungen sind im Bezirk absolute Mangelware, wenn mal eine auf dem Radar der sozialen Wohnhilfe auftaucht, ist das mehr Glück als Verstand.“ Auch bei kleinen Wohnungen und Wohnheimplätzen seien die Kapazitäten begrenzt. „Es gibt Tage, an denen die soziale Wohnhilfe um 9 Uhr öffnet und um 10 Uhr müssen wir sagen, wir haben keine Unterkunft mehr.“
Günther Schulze spricht noch eine andere Entwicklung an: Mehr und mehr Familienangehörige kommen nach. „Erst war die Mutter mit Kind da, jetzt kommt auch noch Oma mit Opa.“
Die privaten Gastgeber, die 2022 ebenso wie die Zufluchtsuchenden davon ausgingen, dass die Gäste- und vorerst nicht mehr gebrauchten Jugendzimmer nur für wenige Wochen als Obdach herhalten müssten, sehen sich mit einer anderen Realität konfrontiert. Der Krieg in der Ukraine dauert an, die Menschen bleiben. Deshalb wünschen sich 80 Prozent der Befragten „Hilfe bei der Wohnungssuche“. Die allerdings ob der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt meist erfolglos bleibt.
Gibt es Hoffnung für die Gastgeber? „Ich gehe nicht davon aus, dass so schnell neue Wohnungen geschaffen werden“, sagt Alexandra Kattein. Daher sieht sie für die Wohnungsgebenden nur zwei Möglichkeiten: „Entweder sie finden sich damit ab, dass sie dauerhaft zahlende Mitbewohnerinnen und Mitbewohner haben.“ Oder sie überzeugen ihre Gäste, „aus Berlin wegzuziehen und anderswo neuen Wohnraum zu finden“. In der Hauptstadt sei das nicht realistisch.
Stadtrat Richter meldet sich zu Wort: „Meine Sorge ist, dass wir die Wohnungsgebenden so überlasten, dass sie selber Hilfe benötigen.“ Denn, das zeigt die Studie, die privaten Vermieter geben nicht nur Wohnraum, sie unterstützen die Menschen aus der Ukraine auch im Alltag bei Behördengängen, beim Ausfüllen von Anträgen, bei der Kita- und sogar bei der Schulplatzsuche. Von der psychologischen Begleitung am Küchentisch oder auf dem Wohnzimmersofa ganz zu schweigen. „Die Wohnungsgebenden müssen lernen, dass sie sich nicht um alles kümmern müssen“, so Tim Richter. Beratungsstellen, Ämterlotsen, Ehrenamtsprojekte und Ansprechpartner im Amt könnten weiterhelfen – und den Vermietern etwas Last von den Schultern nehmen.
„Hohen Respekt und großen Dank“ zollte Günther Schulze den privaten Gastgebern. „Wenn es sie nicht gegeben hätte, wären wir im vergangenen Jahr im Chaos gelandet.“ Die großen Belastungen sieht er. Letztens habe sich ein Wohnungsgeber beim Willkommensbündnis gemeldet. Er wäre froh, wenn seine Mitbewohner mittelfristig eine neue Bleibe finden würden. „Ich möchte morgens mal wieder nackig ins Bad gehen“, seien seine Worte gewesen. Nachvollziehbar.
- Die Studie „Flucht und Ankommen aus der Ukraine: Unterstützungsbedarfe im Bezirk Steglitz-Zehlendorf“ wird in der nächsten Sitzung des Sozialausschusses (Donnerstag, 12. Oktober) den Bezirksverordneten vorgestellt.
- Das Willkommensbündnis Steglitz-Zehlendorf, es ist die größte Bürgerinitiative des Bezirks, ist über die Website www.willkommensbuendnis-steglitz-zehlendorf.de zu erreichen.