Namen & Neues

300 Fälle pro Sachbearbeiter: Die Beschäftigten des Sozialamts sind überlastet – ein Besuch im Rathaus Lankwitz

Veröffentlicht am 12.10.2023 von Boris Buchholz

Vor zwei Tagen, Dienstag: Um 6 Uhr stehen schon die ersten Antragstellenden vor der Tür des Sozialamts im Südwesten, es regnet. Das Amt ist im Rathaus Lankwitz beheimatet; auf dem großen Marktplatz davor parken Autos, Menschen hasten zur S-Bahn, warten auf den Bus, auf der Leonorenstraße schiebt sich der Berufsverkehr Richtung Steglitz. Gegen 8.45 Uhr haben sich etwa 60 Personen in die Schlange eingereiht, fast minütlich werden es mehr. Der Andrang ist nicht außergewöhnlich. Das war er fünf Tage zuvor gewesen, als die Schlange sich über 50 Meter bis weit auf die Leonorenstraße hinzog. Dann schlägt die Rathausuhr 9 Uhr: Das Sozialamt öffnet seine Pforten, auf der Freitreppe verteilen Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes Wartemarken, die Antragsstellenden werden nach und nach in das Gebäude gelassen.

Dienstag und Donnerstag sind die beiden Sprechtage des Amts für Soziales in Steglitz-Zehlendorf. Von 9 bis 13 Uhr kann dann beantragt werden, in einer Wohnung oder einem Wohnheim des Amts Platz zu bekommen, es können Bürger- und Wohngeld, Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch oder dem Asylbewerberleistungsgesetz beantragt werden. Für den Bereich Grundsicherung und materielle Hilfen im ersten Stock werden jeden Sprechtag 50 Wartemarken verteilt. Wer die Unterstützung der Sozialen Wohnhilfe im Erdgeschoss benötigt, muss zwar auch eine Nummer ziehen, doch die Anzahl ist nicht begrenzt. Um 12.30 Uhr wird dort die Nummernvergabe beendet.

Kaum Wohnungen, wenige Heimplätze. „Eigentlich ist um 10 Uhr die Schlange bei der Sozialen Wohnhilfe abgearbeitet, weil wir keine Wohnheimplätze mehr haben“, sagt Melanie Tapp, die stellvertretende Amtsleiterin und Leiterin des Teilhabefachdiensts. Die Chance, irgendwo in Berlin noch einen Schlafplatz zu ergattern, sinkt, je länger der Vormittag voranschreitet. Dennoch würden die Mitarbeitenden nicht müde werden, herumzutelefonieren – und mit etwas Glück doch noch ein Heimbett zu finden. Das Sozialamt steht gesetzlich in der Pflicht, jeder Antragsteller hat das Recht auf Unterbringung. Auch wenn um 13 Uhr keine neuen Hilfesuchenden mehr ins Gebäude gelassen werden, gehe die Arbeit weiter, bis in den späten Nachmittag hinein. Sind die Not und der Andrang groß, „bleiben die Beschäftigten auch bis 19 Uhr“, weiß Melanie Tapp.

Andrang. Um 9.30 Uhr sind die Gänge im Erdgeschoss und in der ersten Etage des Sozialamts mit Menschen gefüllt. Die Sitzplätze an den Seiten reichen bei weitem nicht für alle aus; sehr viele Menschen stehen, teils über Stunden. „Ein anderer großer Teil unserer Kunden ist im Rathaus Steglitz“, sagt Alexander Dähn, der Referent von Sozialstadtrat Tim Richter (CDU). „Alle Anträge von Menschen aus der Ukraine werden ausschließlich dort bearbeitet.“

Es sei ein normaler, ruhiger Sprechtag, heißt es aus dem Amt an diesem Dienstag. Die vier privaten Sicherheitsleute steuern die Menschen, geben Hinweise, unterstützen dabei, den richtigen Raum zu finden. Auch der Pförtner hilft mit. „Er ist eine echte Perle“, sagt Alexander Dähn. Statt sich in die Pförtnerloge zurückzuziehen, stehe er in der Tür oder gehe durchs Haus, er „fühlt er sich mit dem Haus verbunden und lenkt ganz viel mit“.

Zum Alltag im Sozialamt gehören aber auch Beamte in Uniform und Blaulicht. „Polizeieinsätze sind regelmäßig, da kommt dann nicht nur ein Wagen, sondern auch mal vier oder fünf“, weiß der Referent zu berichten. Gerangel am Einlass, Frust, wenn Schlange und Wartezeit zu lang sind, miese Stimmung bei denen, die noch einmal kommen müssen. „Wer jemanden bedroht, erhält Hausverbot, das gilt auch bei Sachbeschädigungen“, sagt Melanie Tapp. Das sei erst letztens vorgekommen, als ein Stein in ein Fenster flog; ein anderes Mal sei ein Sicherheitsmann verletzt worden.

Teilweise Verständnis. Die Stellenleiterin des Bereichs Grundsicherung und Hilfe zum Lebensunterhalt, sie will ihren Namen nicht veröffentlicht sehen, kann manche Frustration der Leistungsberechtigten nachvollziehen. Ist der Aufenthaltstitel zum Beispiel unklar oder abgelaufen, ist das Sozialamt auf die Entscheidung aus dem Landeseinwohneramt (LEA) angewiesen; dort werden Termine aber sehr langfristig vergeben. Bislang reichte es im Rathaus Lankwitz, eine Terminbestätigung des LEA vorzulegen, um das Geld zum Lebensunterhalt bis zum Gespräch weiter zu erhalten. Doch jüngst habe das LEA die digitale Terminvergabe eingestellt, es gebe keine offiziellen Nachweise über vereinbarte Termine mehr – die Folge ist, dass in Lankwitz kein Geld locker gemacht wird. Ohne Nachweis, keine Unterstützung. „Ich hatte jetzt den Fall, dass ich deshalb ein älteres Paar, das Grundsicherung bezog, auf Leistungen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz herabstufen musste“, sagt der Kollege der Stellenleiterin. Ein herber Schlag für die Betroffenen.

Rücklagen haben die Klienten des Sozialamts keine. „Wer bei uns nichts kriegt, hat keine weiteren Möglichkeiten“, sagt die Stellenleiterin klar. „Manche fangen an zu weinen, andere zu zetern, andere zu randalieren.“ Dabei sei sie hier, um zu helfen. „Doch manchmal wissen wir nicht, wo wir zuerst helfen sollen.“ Die Tätigkeit im Sozialamt hinterlasse bei den Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern psychologische Spuren, „das macht ja etwas mit uns“. Die Angebote seitens des Arbeitgebers, um Frustration, Hilflosigkeit oder Überforderung zu begegnen, seien gering. „Wir haben für gesundheitsfördernde Angebote wenig Mittel.“

Hinzu kommt die ständige Überbelastung. „Ich habe seit 2017 sieben Überlastungsanzeigen geschrieben“, sagt die Stellenleiterin. Ein fragender Blick über den Schreibtisch – „ich bin ja erst zwei Jahre hier, aber ich habe in beiden eine Anzeige geschrieben“, sagt der Kollege. In der September-Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung hatte Bezirksbürgermeisterin Maren Schellenberg (Grüne), zu ihrem Ressort gehört auch die Personalabteilung, von bisher 36 Überlastungsanzeigen aus dem Sozialamt im Jahr 2023 berichtet. 2022 seien es 32 gewesen, vor Corona in 2019 gab es 30 Meldungen, 2018 waren es 33. „Sie sehen, es liegt hier kein neues Problem vor“, sagte sie.

Das Problem ist altbekannt, die Fallzahl pro Mitarbeiter bleibt zu hoch. Jeder Sachbearbeiter und jede Sachbearbeiterin ist für 300 Fälle zuständig. „Wenn mein Kollege im Urlaub oder krank ist, dann mache ich seine 300 Fälle mit“, sagt die Stellenleiterin. „Man müsste eigentlich jede Woche eine Überlastungsanzeige schreiben.“ Habe sich denn etwas durch die Anzeigen verändert? „Es hat sich nichts verbessert, verändert hat sich jede Menge“, lautet die knackige Antwort der Praktikerin. Es seien mehr und mehr Fälle geworden, erst kam Corona, dann der Ukraine-Krieg, immer mehr Menschen benötigen Unterstützung vom Staat.

„Ohne mehr Personal können wir organisatorisch noch so viel verändern, wir verschieben die Probleme nur“, sagt Alexander Dähn. Die stellvertretende Amtsleiterin Melanie Tapp (Foto) beschreibt, was helfen würde: „Unsere Amtsleitung hat einen Bedarf von 30 zusätzlichen Stellen angemeldet.“ Doch diese Stellen sind im Haushaltsplan des Bezirks für die beiden kommenden beiden Jahre nicht vorgesehen. An der Anzahl der Überlastungsanzeigen wird sich wohl absehbar wenig ändern. Übrigens geben die Anzeigen nicht nur dem Arbeitgeber den Hinweis, dass etwas schiefläuft. Die Anzeigen schützen die Mitarbeitenden bei Fehlern auch vor Regressforderungen. Fehler, die trotz der 300 Fälle pro Sachbearbeiter nicht vorkommen sollen: „Wir dürfen nicht nachlässig sein, wir dürfen keine Fehler machen“, sagt der Kollege der Stellenleiterin.

Er gibt noch zwei Gedanken auf den Weg: Entlasten würde die Beschäftigten, wenn alle Antragstellerinnen und Antragsteller über ein Bankkonto verfügen würden. Würden die Banken den Zugang zum Konto erleichtern, müssten in vielen Fällen die Geldleistungen nicht mehr persönlich im Amt abgeholt werden – es gäbe mehr Zeit für die anderen Besucher. Zugleich sieht er die aktuelle Debatte um Sachleistungen für Asylbewerber kritisch. „Sachleistungen auszugeben, ist nicht leistbar und nicht sinnvoll.“

Wenn die Situation im Sozialamt für Beschäftigte und Publikum schwierig ist, ließen sich denn wenigstens baulich Erleichterungen erreichen? Melanie Tapp zeigt auf die „Kinderecke“ an der Treppe im ersten Stock: Zwei Plastikspielgeräte stehen hier, sonst ist die Ecke karg und leer, an der Wand einige Klappsitze. Der Brandschutz verhindere ein kinderfreundlicheres Ambiente, so die Auskunft. Gleiches gelte für mehr Sitzplätze. „Wir haben keinen Pausenraum für die Mitarbeitenden, wir haben keinen Erste-Hilfe-Raum und wir haben keinen Raum für Kinder und Familien“, sagt sie. „Wir platzen aus allen Nähten, wir sitzen zu dritt, zu viert im Büro – wir haben null Spielraum.“ Etwa 220 Beschäftigte arbeiten insgesamt im Amt für Soziales, gut 190 davon im Rathaus Lankwitz. Der Krankenstand liege bei etwa 20 Prozent „mit der Tendenz nach oben“, heißt aus dem Amt.

Etwas einfacher könnte die Arbeit vielleicht werden, wenn die Leistungsbezieher mit ihren Wartenummern auf einer Anzeigetafel sehen könnten, welche Nummer gerade für welches Zimmer aufgerufen wird, wie im Bürgeramt. Bisher treten die Sachbearbeiter auf den vollen Flur und rufen: „Wer ist die sieben?“ Auch ließen sich manche Fragen gut telefonisch klären – doch ist es schwer, jemanden zu erreichen, an den Sprechtagen schon gar nicht. Ein zentraler Telefondienst mache keinen Sinn, sagt Melanie Tapp, „weil wir keine elektronischen Akten haben“. Doch in die Unterlage müssen die Mitarbeitenden gucken können, „die Menschen haben ja konkrete Nachfragen“. Eine Lösung könnte es sein, eine feste Telefonsprechstunde, die für alle Bereiche gelte, einzurichten, überlegt die stellvertretende Amtsleiterin laut beim Gang durch das Rathaus Lankwitz.

Das Amtszimmer von Tim Richter, dem Stadtrat für Soziales und Bürgerdienste, ist an diesem Dienstagvormittag verwaist. Der Stadtrat ist zur Sitzung des Bezirksamts in das Rathaus Zehlendorf gereist. „Das, was die Mitarbeitenden der Berliner Sozialämter leisten, ist vorbildlich“, sagt er am Abend am Telefon. „Hier arbeiten Menschen, die jeden Tag helfen.“ Er sehe den „enormen Mehraufwand“ der Beschäftigten. „Wir sind das zweitkleinste Sozialamt der Stadt – mit enormen Zuwächsen an Fällen“, so Tim Richter. Allein mehr Personal würde das Problem lösen, dafür setze er sich ein.

Von seinem Zimmer aus hat der Stadtrat einen guten Blick auf die morgendliche Schlange. Der Winter naht, es wird immer regnerischer und kälter. Sie würden im Amt darüber nachdenken, ein Wärmezelt auf dem Parkplatz aufzustellen, sagt der Stadtrat. Allerdings sei das eine Kostenfrage, und es müsste auch ein freier Träger dafür gefunden werden. „Wir sind noch nicht am Ende unserer Überlegungen.“

Eines ist den Beschäftigten im Sozialamt noch wichtig: Auch wer außerhalb der offiziellen Sprechzeiten am Dienstag und Donnerstag dringend Unterstützung benötige, erhalte Hilfe. „Wenn ein Bürger zum Amt kommt, weil er mittellos ist und gestern beklaut wurde, dann wird gehandelt“, sagt Melanie Tapp. Sollte die Bezirkskasse – sie befindet sich im Rathaus Steglitz – dann schon geschlossen haben, könnten zumindest Kostenübernahmescheine für Lebensmittel ausgegeben werden, „um die akute Mittellosigkeit zu beseitigen“.

  • Fotos: Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf (1) / Boris Buchholz