Namen & Neues

„Projekt Seerose“: Die Frauen aus dem Desert Flower Center lernen schwimmen

Veröffentlicht am 14.03.2024 von Boris Buchholz

Jasmin Abdul Kadir ist extra aus Pankow nach Zehlendorf gekommen. Jetzt hält sie sich am Beckenrand des Primavita-Bades am Teltower Damm fest und lacht über das ganze Gesicht. „Erst hatte ich Angst, ich hatte bisher immer Angst im Wasser“, sagt die 34-Jährige. Sie ist an diesem Tag zum ersten Mal beim Schwimmkurs, den das Desert Flower Center aus dem Krankenhaus Waldfriede für Frauen und Kinder anbietet. Und sie ist heute zum ersten Mal geschwommen – und glücklich.

Seit Ende Februar ist das Projekt „Seerose“ in Aktion. Die Idee, Frauen aus verschiedensten Herkunftsländern und ihren Kindern das Schwimmen beizubringen, hatten Camilla Kuppert und ihr Mann Sven Reichardt: Ihm gehört die Schwimmschule Seepferdchen4All, sie ist dort die verantwortliche Schwimmlehrerin. „Bei unseren normalen Kinderkursen haben uns Eltern mit Migrationshintergrund angesprochen, dass sie nicht schwimmen können“, erzählt Sven Reichardt dem Tagesspiegel. „Die Eltern können mit ihren Kindern nicht mithalten, aber sie wollen mit ihren Kindern im Sommer an den See.“ So seien die Schwimm-Experten auf die Idee gekommen, einen Kurs für migrantische Frauen einzurichten. Über das Gesundheitszentrum Primavita, es betreibt das Bad am Teltower Damm, in dem Seepferdchen4All auch normale Wasserzeiten hat, kam der Kontakt zum Desert Flower Center zustande. Das Projekt „Seerose“ war geboren.

„Als ich von dem Angebot hörte, habe ich gedacht: Klasse, natürlich, meine Frauen können ja alle überhaupt nicht schwimmen“, sagt Cornelia Strunz, Oberärztin und ärztliche Koordinatorin des Desert Flower Centers. Hier werden Frauen behandelt, beraten und begleitet, die an den gesundheitlichen und psychischen Folgen von Genitalverstümmelung leiden. Für ihre Frauen und deren Kinder ist die Oberärztin einfach „Dr. Conny“. Sie ist bei den Schwimmkursen dabei, sie kennt jede der Frauen – und alle kennen sie. Die Stimmung in der Schwimmhalle ist vertraut, herzlich und fröhlich.

„Die Frauen können sich hier wohlfühlen, sie haben einen geschützten Raum, wir haben die Halle ja für uns“, sagt die Ärztin. „Natürlich ist heute Abend nicht der Rahmen, um über Genitalverstümmelung zu reden“, fügt sie an. Der Schwimmkurs sei ein Zusatzangebot zur Selbsthilfegruppe, die das Desert Flower Center seit 2015 anbietet. „Wir kümmern uns“, sei die Botschaft. Und die kommt an: Dr. Conny strahlt ihre Frauen an, und die strahlen zurück.

Die Resonanz auf das neue Angebot war groß. Als sie das Projekt in der Selbsthilfegruppe vorstellte, seien etwa 40 Frauen und 20 Kinder gekommen, die alle schwimmen lernen wollten, erinnert sich Cornelia Strunz. Für die zwei Stunden Hallenzeit, die das Projekt „Seerose“ am Samstagabend hat, wurden drei Gruppen gebildet, jede darf 40 Minuten ins Wasser. Maximal zwölf Schwimmanfängerinnen oder -anfänger (Jungen bis 14 dürfen teilnehmen) sind zur gleichen Zeit im Wasser, drei Trainerinnen leiten den Unterricht. Seit dem 24. Februar läuft der Kurs, teilweise wollen die Frauen und Kinder gar nicht mehr aus dem Wasser, berichtet Schwimmlehrerin Camilla Kuppert. Es sei das größte Kompliment für ihre Arbeit, besser könne es nicht laufen. Sie und ihr Mann richten die Schwimmkurse ehrenamtlich aus und tragen die Kosten zum Beispiel für ihre Mitarbeiterinnen alleine – für die Frauen und das Desert Flower Center ist das Angebot kostenlos. Im Mai startet dann Kurs Nummer zwei.

„Was müssen wir beachten, wenn wir Strampelbeine machen?“, fragt die Schwimmlehrerin in der ersten Trainingsgruppe in die Runde. Auf der Bank in der kleinen Schwimmhalle des Primavita-Bades sitzen neun Kinder und eine Mutter. „Müssen die Füße lang sein oder gerade nach oben?“ „Sie müssen lang sein“, antworten mehrere der Kinder wie aus der Pistole geschossen. „Dann macht die mal lang, lang, lang, lang, spitze Füße, zeigt mal her“, fordert die Schwimmlehrerin auf – und erhält Widerworte: „Aber hier ist ja gar kein Wasser!“, sagt ein Mädchen. Keine zwei Minuten später sind die Zehn – zumeist furchtlos – im Becken und halten sich am Rand fest. Und dann wird im Wasser mit den Beinen gestrampelt, was das Zeug hält.

Am Beckenrand ist Nima Ahmed sitzen geblieben, obwohl auch sie nicht schwimmen kann. „Letzte Woche bin ich mitgeschwommen, aber diese Woche kann ich nicht, wegen Frauenproblemen“, sagt die 34-Jährige. Als sie sieben Jahre alt war, ist sie in Somalia beschnitten worden. 2007 floh sie vor dem Bürgerkrieg nach Italien, dort wurde sie operiert; in Deutschland ist sie seit 2014, seit 2015 kennt sie Dr. Conny. Und ihre Tochter kennt die Ärztin auch: „Muna war unser zweites Desert-Flower-Center-Baby“, sagt Cornelia Strunz.

Während der Unterhaltung ist ihre Tochter Muna mit ihrer gelben Badekappe unter Anleitung der Trainerinnen im Wasser unterwegs. Die Achtjährige treibt einen Gummiball vor sich her, legt sich auf ein Schwimmbrett und strampelt durchs Becken. Nima Ahmed hat insgesamt fünf Kinder; sie findet die Chance, dass sie und Muna jetzt schwimmen lernen können, großartig. Dafür nehmen sie auch die Anfahrt aus Köpenick in Kauf. Es sei gut, dass sie in der ersten Gruppe schwimmen können: Am nächsten Morgen müsse sie um 5.30 Uhr bei der Arbeit sein, sie arbeite als Küchenhilfe in einem Berliner Krankenhaus. Parallel macht sie eine Ausbildung zur Pflegehelferin.

Inzwischen ist die dritte Gruppe im Wasser, es sind Frauen ab 15 Jahren: „Meine hübschen Ladys, schön, dass ihr alle da seid“, begrüßt Camilla Kuppert sie im Wasser. Es werden wieder Strampelbeine geübt – das Spritzen und Schwimmen macht den Älteren ebenso viel Spaß wie den Kleinsten. Dann muss der Berichterstatter die Halle verlassen, eine der Frauen möchte nicht, dass ein Mann in der Halle anwesend ist. Der geschützte Bereich für die Frauen vom Desert Flower Center funktioniert.

  • „Ich bin es leid, nur das Opfer zu sein“: Mit zwölf wurde Mariatu die Klitoris abgeschnitten. Erst 29 Jahre nach der Genitalverstümmelung konnte Mariatu aus Nigeria über ihre traumatischen Erfahrungen reden. Sie ließ sich im Desert Flower Center operieren. Es war die beste Entscheidung, sagt die 41-Jährige. Und lacht. Hier lesen Sie mehr.