Nachbarschaft

Veröffentlicht am 19.12.2019 von Boris Buchholz

Angelika Behm, 65, freut sich schon darauf, durch das Brandenburger Umland zu radeln, und mehr Zeit mit ihrem Waldhorn zu verbringen. Am 31. Dezember geht die Geschäftsführerin der Diakonie Hospize Wannsee und Woltersdorf in den Ruhstand – nach zwanzig Jahren in der Hospizarbeit.

Heiligabend und die Weihnachtstage sind für Menschen, die einen Angehörigen oder einen engen Freund verloren haben, eine schwierige Zeit. Was raten Sie den Betroffenen? Trauernde Menschen spüren in dieser Zeit noch einmal sehr viel stärker ihre Trauer – und auch ihre Einsamkeit. Trauende sollten den Mut haben, Rituale, die sie immer gepflegt haben, Rituale, die es in der Familie gab, auch an solchen Tagen aufrechtzuerhalten. Also den Weihnachtsbaum wie immer zu kaufen; die Krippe aufzustellen, wo sie immer war; sich das Heim gemütlich zu gestalten. Auch wenn dadurch sehr viele Erinnerungen hochkommen und es traurig ist. Diese Rituale sind wie ein Geländer, an dem man sich entlang hangeln kann, so dass man nicht im Bodenlosen versinkt.

Wie kann man denn mit der Leere, die der Verstorbene hinterlässt, umgehen? Es geht darum, den Verstorbenen einzubeziehen und sich seine eigene Trauer bewusst zu machen. Es gibt einen sehr schönen Brauch, den die Eltern von Dietrich Bonhoeffer einführten. Sie hatten einen Sohn verloren – ihr Ritual war, dass Mutter Bonhoeffer vor der Bescherung sagte: „Kommt, lasst uns rübergehen auf den Friedhof und eine Kerze anzünden.“ Ich persönlich mache es auch so, ich bin ja schon sehr lange Witwe: Heiligabend fahre ich zum Friedhof und stelle auf das Grab meines Mannes eine Kerze.

Und dann feiern Sie mit Ihrer Familie fröhliche Weihnachten? Natürlich.

Wie können denn Familienangehörigen und Freunde darauf reagieren, wenn die Traurigkeit im Raum ist? Einfach akzeptieren, dass es so ist. Es hilft den Trauernden sehr, wenn die Trauer nicht totgeschwiegen, wenn der Verstorbene nicht totgeschwiegen wird. Die Angehörigen sollten keine Angst haben, dass jemand in Tränen ausbricht. Es ist gar nicht schlimm zu weinen – viel schlimmer ist es für den Trauernden, so zu tun, als wenn nichts wäre. Wenn versucht wird, eine krampfhafte Fröhlichkeit zu erzeugen. Denn das ist ja nicht so, da fehlt ja jemand, es bleibt im wahrsten Sinne ein Stuhl leer. Es ist gut sich zu erinnern: Wie waren die Weihnachtsfeste früher, als der Vater, der Opa, die Mutter noch dabei waren? Was wurden für Geschichten erzählt? Was wurde gegessen? Was gibt es für Anekdoten, was ist bei den Festen passiert, was ging schief, worüber wurde gelacht? Die gemeinsame Zeit noch einmal aufleben zu lassen, hilft Trauernden sehr. Und dann kann es auch fröhlich und leicht werden, das erlebe ich im Hospiz immer wieder – mit Menschen die wissen, dass es ihr letztes Weihnachten sein wird.

Wie wird denn im Hospiz Weihnachten gefeiert? Wie zu Hause. Um 16 Uhr treffen sich unsere Gäste, ihre Angehörigen und Freunde sowie die Mitarbeiter im Wohnzimmer. Der Weihnachtsbaum ist geschmückt, eine festliche Tafel ist gedeckt. Es gibt eine kleine Andacht, die Weihnachtsgeschichte wird vorgelesen und wir singen Weihnachtslieder. Und dann gibt es ein gutes Essen: Kürbissuppe, Kartoffel- und Nudelsalat, Würstchen, Bouletten, zwei Nachtische, Bier und Wein, Saft und Tee. Je nach Kraft der einzelnen Gäste ist der eine vielleicht nur eine halbe Stunde dabei, der andere zwei oder drei. Wer nicht am Tisch sitzen kann, wird im Bett ins Wohnzimmer gefahren.

Ihr Wohnzimmer muss recht groß sein … Das ist so. Die Gemeinschaft steht im Vordergrund: Gemeinsam schauen wir uns den Weihnachtsbaum an, wir singen gemeinsam, wir essen gemeinsam. Wir feiern zusammen. Kein Mensch kann 24 Stunden nur an sein Sterben denken. Unser Ziel ist es, bis zuletzt eine möglichst hohe Lebensqualität zu ermöglichen – durch eine gute Schmerztherapie und durch eine möglichst gute psychosoziale Begleitung. Wenn das gelingt und die Atmosphäre gut ist, dann kann es auch ganz fröhlich werden. Dann kann es sein, dass man das Sterben auch einmal vergisst; man erzählt, denkt an früher und lässt es sich schmecken. Und natürlich kann es passieren, dass auch am Heiligen Abend jemand stirbt – das kann nebeneinander sein.

Werden Sie am 24. Dezember zusammen mit Ihren Gästen Weihnachten feiern? Ja, es ist mein letzter offizieller Arbeitstag. Ich werde erst in Wannsee sein und hier auch die Andacht halten, im Anschluss werde ich nach Woltersdorf fahren. Es ist mir total wichtig, an diesem besonderen Tag noch einmal in beiden Hospizen zu sein. Ich habe dann noch einige Tage Urlaub – und dann ist Schluss.

Wären Sie gerne zehn Jahre jünger, damit Sie noch länger Ihren Job machen können? [lacht] Nein, ich glaube, ich habe ein so wunderbares und reiches Leben, ich konnte so viel schöne Dinge erleben und Menschen kennen lernen. Jetzt habe ich Lust auf anderes. Ich werde mehr Zeit für mein Waldhorn haben. Gerade bin ich in meiner Potsdamer Kirchengemeinde in den Gemeindekirchenrat gewählt worden und ich habe schon im Oktober eine Fortbildung zur „Geistlichen Begleitung“ im Kloster Lehnin begonnen. Ich will Fahrrad fahren, Freunde treffen, Zeit für die Enkelkinder haben …

Ehrenamtlich im Hospiz weiterarbeiten, das wollen Sie nicht? Das werde ich auf gar keinen Fall. Sterben gehört zum Leben dazu, aber jetzt will ich etwas anderes machen. – Text: Boris Buchholz

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