Nachbarschaft
Veröffentlicht am 26.03.2020 von Boris Buchholz
Essen ist nicht nur etwas, das man schnell im Stehen erledigen sollte: Gesund und bewusst zu essen sowie mit allen Sinnen zu genießen, will Birgitt Claus, 55 Jahre, mit ihrer Firma „eßkultur“ vermitteln. Sie betreibt nicht nur die Kantine im Tagesspiegel in Berlin-Kreuzberg, sondern auch seit 19 Jahren die Cafeteria und das Restaurant im Museumskomplex in Berlin-Dahlem. Bis letzte Woche boten sie und ihr Team dort noch einen Mittagstisch an; doch seit Sonntag ist der gastronomische Betrieb von eßkultur geschlossen – so wie in allen Cafés und Restaurants der Stadt sind die Tische verwaist.
Frau Claus, ja was machen Sie denn jetzt? Wir haben in unseren vier Betriebsstätten keine Einnahmen mehr. Das ist bitter. Ich versuche, mit kreativen Ideen Umsatz zu erzielen. Ich nenne unseren ersten Versuch: Kekse und Mundschutz. Wir haben ein riesiges Warenlager in vier Küchen, die zusammen täglich circa 500 Portionen Essen gekocht haben. Alle frischen Gemüse und verderblichen Dinge habe ich meinen Mitarbeitern zur Abholung angeboten. Ab jetzt verbacken wir all die Eier und die Butter zu Keksen und Tartes und wollen diese wie in einer Bäckerei verkaufen. Und dazu auch selbst genähte Mundschutze. Meine Mitarbeiter arbeiten unter Bedingungen, die ich verantworten kann: nur einer in der Küche, und eine andere Person im Service. Und eine Mitarbeiterin näht bei mir zuhause Mundschutze.
Respekt, Sie scheinen recht flexibel zu sein: Ist es also wahr, dass in jeder Krise auch eine Chance liegt? Klar, und diese Krise bietet sehr viele Chancen. Vielleicht zu viele.
Wie kamen Sie von gebackenen Süßkartoffeln mit Schafskäse und Tomatenkompott zur selbstgenähten Atemschutzmaske? Ich habe schon immer gern genäht und habe zuhause für alle Fälle immer zehn Kilometer Antidepressiva in Form von bunten Stoffen vorrätig: Wenn ich schlechte Laune kriege, dann nähe ich. Und schlechte Laune kann man bei diesem Corona-Virus schon bekommen. Ich habe im Team eine gelernte Schneiderin mit einem Minijob, wir haben zusammen einen Mundschutz entwickelt. Für Minijobber gibt es im Moment keine Möglichkeit zum Beispiel Kurzarbeit zu beantragen oder andere Programme. Meine Schneiderin hätte ich kündigen müssen. Wir machen also mit den Mundschutzen Arbeit gegen schlechte Laune, in der Hoffnung, dass es viele Menschen gibt, die unsere nachhaltigen, bunten Mundschutze, die man bei 90 Grad waschen kann, zu einem solidarischen Preis kaufen. Um damit einen Arbeitsplatz zu retten.
Wie viele Mitarbeiter haben Sie dennoch entlassen müssen? Ich will keinen Mitarbeiter entlassen. Aber: Wer heute in der Gastronomie einen 20-Stunden-Vertrag hat, kann von 60 Prozent Kurzarbeitergeld noch nicht mal seine Miete bezahlen. Ich würde gern höhere Löhne zahlen, aber leider geben die Deutschen so ungern Geld für Essen aus. Ich habe allen Mitarbeitern eine andere Arbeit angeboten, im Rahmen einer Arbeitnehmerüberlassung, in einem Lebensmittel-Warenlager als Kommissionierer. Im übrigen bin ich sehr angenehm überrascht, wie viele Programme innerhalb so kurzer Zeit tatsächlich schon greifen. So hat uns das Finanzamt innerhalb von Stunden die Umsatzsteuer von Januar rückwirkend gestundet und zurücküberwiesen, um unsere Liquidität zu erhalten. Nur als ein Beispiel. Hoffentlich denken viele Menschen jetzt solidarisch. Die, die jetzt noch Geld verdienen, können jetzt bei dem, was sie kaufen, faire Preise zahlen.
Viele Restaurants stellen auf Lieferdienste um: Ist das für eßkultur eine Option? Nein. Ich habe darüber nachgedacht: Essen in Einmalverpackungen war noch nie mein Ding. Ich habe auch noch nie verstanden, warum man sich eine Pizza nach Hause bestellt. Die schmeckt mir persönlich aus dem Holzbackofen frisch auf dem Teller viel besser.
Jetzt müssen Ihre Gäste – und alle anderen – zuhause kochen. Haben Sie einen Tipp für eine gute Esskultur in den eigenen vier Wänden? Für mich ist das gemeinsame Essen am Tisch ein wichtiges tägliches Ritual. Wir haben Gäste, die seit 2001 zu uns zum Mittagessen kommen, und die tatsächlich am Montag hier angerufen haben und uns erzählten: Jetzt steht meine Frau am Herd, das ist so ein ungewohntes Bild. Für Leute, die nicht so gern kochen und unsere Küche schätzen: Wir arbeiten an der Idee, frische Eintöpfe und leckere Soßen statt auf Teller in Pfand-Weckgläser zu füllen, zum Mitnehmen. Täglich wechselnde Soßen für all die Nudeln, die sich jetzt in allen Privathaushalten finden. Alle, die bei uns etwas kaufen, unterstützen uns. Und wir brauchen diese Unterstützung.
Ich bin zur Zeit noch völlig maskenlos: Wie komme ich denn an einen Krisen-Keks und eine eßkultur-Schutzmaske? Wir planen am Freitag, dem 27. März, unsere erste Aktion in unserem Restaurant in der Takustraße 38 in Dahlem. Dort stehen wir von 12 bis 16 Uhr und verkaufen Kekse und Mundschutz. Wir wollen aber auch Käsekuchen und Tartes auf Bestellung backen. Wir freuen uns auf große Bestellungen, die Liste der Möglichkeiten gibt es ab Donnerstag auf unserer Homepage.
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