Nachbarschaft
Veröffentlicht am 09.04.2020 von Boris Buchholz
Die Coronakrise stellt für Flüchtlinge in Berlin eine enorme Belastung dar. Warum das so ist, erklärt Norbert Mönter zusammen mit dem Therapeutenteam des Steglitzer Gesundheitszentrums für Flüchtlinge (GZF). Er ist nicht nur der Geschäftsführer des Zentrums, sondern auch Arzt für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse. Das GZF befindet sich in der Willdenowstraße.
Herr Mönter, für geflüchtete Menschen, die jetzt in Berlin leben, ist der Umgang mit dem Coronavirus sehr belastend. Warum? Einerseits natürlich, weil sie selbst Angst vor einer Ansteckung haben. Verstärkend kommt jedoch hinzu, dass die Informationen über die Erkrankung selbst, über Ansteckungsmöglichkeiten oder die Maßnahmen, die zur Eindämmung notwendig sind, aufgrund von Sprachbarrieren oft nur unzureichend verstanden werden, was Ängste verstärken kann. Und Angst selbst ist auch ansteckend; besonders, wenn man nicht genug informiert ist. Vor allem leiden die Menschen unter den Kontakteinschränkungen und der meist beengten Wohnsituation. Vieles, was sie vorher stabilisiert und nach der Flucht erste Sicherheit gegeben hat, fällt weg: die Gespräche mit Freunden, Bekannten, die Sprachschule, das Fitnessprogramm. Hinzu kommen die Sorgen um die Familien im Herkunftsland – da bricht trotz oftmals vorhandener Handys die eigene Traumageschichte schon mal über einem zusammen.
Ihr Zentrum betreut mehr als 200 Menschen, viele davon sind durch Flucht, Krieg oder Folter traumatisiert. Wie gehen Ihre Patienten mit der Angst vor dem Virus um? Bemerkenswert unterschiedlich. Ein Teil zeigt eine extreme, über das gesunde Maß hinausgehende Angst vor dem Virus. Bei schwer traumatisierten Menschen sind vormalige Sicherheits- und Kontrollüberzeugungen meist zutiefst erschüttert. Stattdessen haben sich Grundüberzeugungen wie „Du musst immer mit dem Schlimmsten rechnen!“ und „Du bist nie sicher!“ tief eingebrannt. Dies fördert natürlich die Entstehung massiver Angst und Bedrohungsgefühle. Hinzu kommt dann bei einigen eine überhöhte Obrigkeitshörigkeit. Viele Geflüchtete haben Angst, etwas falsch zu machen; daher ziehen sie sich aus Angst vor Ansteckung komplett auf ihr Zimmer zurück, teilweise mit ihrer ganzen Familie. Wenn dann die Heimaufsicht sagt, ihr dürft jetzt nur noch einkaufen gehen, verlässt die Mutter mit ihren drei Kindern schon mal fünf Tage ihr Zimmer nicht mehr. Das verstärkt natürlich den Stress, die innere Unruhe und Anspannung, auch Aggressionen.
Und der andere Teil der Menschen? Es gibt aber auch genau das Gegenteil. Menschen, bei denen eine Bedrohung durch eine Erkrankung in keinerlei Verhältnis zu ihren sonstigen, viel existenzielleren Ängsten steht. Ein Patient beschrieb es geradezu fatalistisch mit den Worten: „Der Virus ist mir egal. Ich habe nur Angst davor, zurückgeschickt, wieder gefoltert und gequält zu werden. Da sterbe ich lieber an Corona.“
Wirft das Virus bereits erreichte Behandlungserfolge wieder zurück? Teils, teils. Wichtig ist: Wir müssen so oder so in Kontakt bleiben. Wir sehen Verschlimmerungen von Depressionen, Ängsten und Traumafolgesymptomen. Virusangst, Kontakteinschränkung und das Gefühl von erneuter Ohnmacht begründen eine übergroße Sorge, gerade jetzt alleingelassen zu werden. Das finden wir bei sehr vielen Patienten, deswegen ist das Halten des Kontakts so wichtig. Wir leisten Aufklärungsarbeit im Sinne einer realistischen Gefahreneinschätzung und motivieren wenn möglich zu einer entlastenden Tagesstruktur, zu der beispielsweise auch Spaziergänge gehören.Wenn es uns gelingt, die therapeutische Beziehung zu halten und die Patienten zu entlasten, kann die Krisensituation auch zu einer Stärkung des Selbstbewusstseins des Patienten führen.
Was müsste aus ärztlicher Sicht getan werden, um den Bewohnern von Flüchtlingsunterkünften einen angemessenen Umgang mit dem Virus zu ermöglichen? Rein räumlich braucht es da mehr Abstand voneinander und mehr Eigenständigkeit der Bewohner und speziell der Familien. Dringlich sind ausreichende – das heißt in vielen Heimen deutlich verbesserte – Hygienestandards. Vielen unserer Patienten, die in Flüchtlingsunterkünften untergebracht sind, ist es nicht möglich, sich an den geforderten Mindestabstand zu halten. Sie teilen sich sanitäre Anlagen und kochen in Gemeinschaftsküchen – bis zu fünfzig Bewohner teilen sich eine Küche. Hier rächt sich die zentralisierte Unterbringung in großen Zentren und Heimen. Eine Isolierung erkrankter Personen ist dort kaum möglich. Da wird dann, wie es in Berlin schon in einigen Heimen der Fall ist, ein ganzes Heim mit 250 und mehr Personen unter Quarantäne gestellt. Die Folgen mangelnder Separierung in geschlossenen Einrichtungen ist ja uns allen noch von den großen Schiffen in Quarantäne vor Augen. Jedes Heim sollte eine mit Infektiologen abgesprochenen Plan haben für den Fall des Auftretens einer Covid-19-Erkrankung.
Wie hat sich Ihre Arbeit im Gesundheitszentrum durch die Corona-Epidemie verändert? Vertrauen und Zeit sind wichtig. In der aktuellen Situation zeigt sich vor allem, wie bedeutend der persönliche Kontakt, die sichere therapeutische Beziehung für die Betroffenen ist. Die unmittelbare Begegnung zu haben, ist für die Klienten essentiell. Daher haben auch einige Patienten ein großes Problem damit, wenn wir auf eine Videosprechstunde und Telefonkontakte umsteigen. Gerade bei unbegleiteten Minderjährigen machen wir die Erfahrung, wie wichtig eine Fortführung der Therapie vis-à-vis ist; das gilt vor allem für die, die kaum andere Kontakte haben. „Wenn ich nicht mal mehr mit dir persönlich reden kann, dann habe ich das Gefühl alles ist vorbei“, so eine junge Patientin in der letzten Woche. Also trifft sich die Kinder- und Jugendtherapeutin zum Beispiel zum gemeinsamen therapeutischen Spaziergang. Je nach Bedürfnissen und Gegebenheiten finden weiterhin persönliche Kontakte bei strenger Einhaltung der Hygienerichtlinien statt – auch auf der Terrasse des GZF. Unser oberstes Ziel ist die Fortführung der therapeutischen Behandlung. Wie dies umgesetzt wird, unterscheidet sich von Fall zu Fall.
Die Gesellschaft kümmert sich gerade vorbildhaft um Vorerkrankte, Schwache und Alte. Werden geflüchtete Menschen aktuell übersehen? Ja, es gibt viel Solidarität in unserer Gesellschaft und die Maßgabe „Schwache schützen“ unterstützen auch wir mit allem Nachdruck. In Verbindung mit den Medien kommt den professionellen Helfern, dem Senat, aber auch der Kassenärztlichen Vereinigung und der Ärztekammer die wichtige Aufgabe zu, das Sprachrohr der Sprachlosen zu bilden. Das gilt für demente Menschen, für Opfer häuslicher Gewalt, für Obdachlose und andere Randgruppen ebenso ausdrücklich wie für geflüchtete Menschen. Für Geflüchtete heißt das in dieser Situation ganz besonders: Die Wohnstandards und vor allem die Hygiene in Gemeinschaftsunterkünften müssen verbessert und die Hilfsstrukturen auf breiter Ebene finanziell gesichert werden. Und aus Sicht des Gesundheitszentrums für Flüchtlinge kommt hinzu: Sicherung der Therapiemöglichkeiten inklusive der Unterstützung einer flexiblen, möglichst individuell ausgerichteten Therapiegestaltung. Empörend allerdings ist es, wenn die Solidarität an den Grenzen Halt macht und zum Beispiel längst gegebene Zusagen für die Aufnahme kranker und gefährdeter Kinder aus den überfüllten griechischen Flüchtlingslagern endlos verzögert werden.
Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: boris.buchholz@tagesspiegel.de