Nachbarschaft
Veröffentlicht am 07.01.2021 von Boris Buchholz

Sein Fach ist die Zukunft, er unterrichtet am Berliner Dreilinden-Gymnasium und lehrt an der Freien Universität. Der Sozialwissenschaftler Edgar Göll, 63, ist Mitarbeiter am Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) in Schlachtensee. Schon im Vorgespräch erklärte er mir seinen Job so: „Also ich gehe der Frage nach, wie wir eine bessere Welt schaffen und unsere Zivilisation retten können.“ So forscht er über nachhaltige Mobilität in China und die Zukunft Nordafrikas. Wie aber sieht es demnächst in Steglitz-Zehlendorf aus?
Herr Göll, Tarot-Karten auf den Tisch, holen Sie die Glaskugel heraus: Wo sehen Sie Steglitz-Zehlendorf in fünf Jahren? Sind wir irgendwo ein Trendsetter? Bemerkenswert ist die umfangreiche Hochschul- und Forschungslandschaft im Bezirk. Doch scheint es nur geringfügige Verknüpfungen mit den bezirklichen Gestaltungsmöglichkeiten zu geben, das sollte künftig gezielter genutzt werden. Und in dem Zusammenhang ist der demografische Wandel von besonderer Bedeutung für den Bezirk: Die Alterung der Bevölkerung nimmt stark zu, während junge Generationen in umliegende Bezirke wechseln. Das ist ein maßgeblicher Trend und wir hätten dann bald eine „Senior City Steglitz-Zehlendorf“. Im Bezirk kommt aber noch hinzu, dass die Konzentration wohlhabender soziokultureller Milieus weiter zunimmt und die Vielfalt also weiter sinkt. Das wäre für die Lebensqualität, Lebendigkeit und Dynamik des Bezirks nicht förderlich. Daher wäre der Bezirk gut beraten, Anreize und attraktive Bedingungen für „junges“ Wohnen und Arbeiten im Bezirk zu schaffen. Preiswertes Wohnen und Leben zum Beispiel für Studierende ist ein immenser Engpass. Schutzmechanismen wie „Mietendeckel 1 und 2“ sind in angemessener Form ein wirkungsvoller Hebel – trotz der egoistischen Gegenwehr. In Bezug auf die Mobilität wäre die U-Bahn-Erweiterung der U3 zum Mexikoplatz eine bedenkenswerte Maßnahme.
Verkehr ist ein gutes Stichwort: Berlin befindet sich irgendwie und irgendwo auf dem Weg zu einer anderen Mobilität. Was wird das Jahr 2021 in Sachen Verkehr wohl bringen? Der motorisierte Individualverkehr, zumal mit giftigen Verbrennungsmotoren, ist definitiv ein Auslaufmodell. Die Abgas- und Lärmbelastungen sind eine Zumutung. Für eine zukunftsfähige Mobilität für die Menschen in Berlin müssen Fuß- und Fahrradwege ausgebaut und der ÖPNV noch attraktiver gestaltet werden. Dazu gehören auch Straßenbahnlinien und integrierte Mobilitätsdienstleistungen, die sogenannten „Mobility as a Service“-Konzepte. Das ganze Spektrum moderner und sauberer Mobilität muss nutzerfreundlich angeboten werden – und künftige Epidemien berücksichtigen.
Haben Sie ein Beispiel für eine Pandemie-sichere Mobilität? Ganz einfaches Beispiel: Viele Menschen in ostasiatischen Regionen tragen seit vielen Jahren Atemschutzmasken, weil sie schon häufig von Epidemien betroffen waren. Das wäre bei uns eine Option neben vielen anderen. Solche Maßnahmen wären am besten mit allen betroffenen Bevölkerungsgruppen zu klären.
Die Pandemie sorgt bei vielen Menschen für eine ungewisse Zukunft. Wieviel Freude bereitet es Ihnen, in Corona-Zeiten Zukunftsforschung zu betreiben? Naja, es ist nicht nur Freude, es gibt viele Todesopfer, viele Menschen leiden und sind überfordert. Die Geschichte zeigt uns, dass es für starke Veränderungen besondere Impulse braucht, vor allem direkte Betroffenheit und spürbare Krisen. Das hat uns der SARS-CoV-2-Virus tatsächlich beschert: Irritation, Schock, Verunsicherung, Ängste – und damit bei vielen Menschen auch eine Besinnung. Für mich als Zukunftsforscher ist es äußerst interessant, die sehr unterschiedlichen Probleme, Betroffenheiten und Reaktionsmuster, die Chancen und Risiken zu sehen. Während die einen überwältigt und überfordert sind von den Umstellungen oder von Einkommensverlusten, reagieren manche Menschen mit Innehalten und Neuorientierung, manche mit Rückzug und wieder andere mit völlig neuen Ideen wie zum Beispiel im Kulturbereich. Neu ist, dass diese Krise weltweite Opfer und Veränderungen fordert. Und es zeigt sich wieder einmal, dass Forschung und Sachkenntnis in Krisenzeiten essenziell sind, dass Zusammenarbeit und überlegtes Handeln für die Bewältigung notwendig sind.
Homeoffice, Masken, hinten einsteigen im Bus, mehr Lieferdienste, weniger Kultur: Welche „Errungenschaften“ der Pandemie haben das Zeug dazu, auch in der Zukunft eine ständige Rolle in unserem Leben zu spielen? Ganz wesentlich und wirkungsmächtig ist der Megatrend zu umfassender Digitalisierung in allen Bereichen. Hier gab es einen mächtigen Schub und es wird sich dadurch noch vieles verändern. Das Motto lautet: „Vom social distancing zum distant socializing!“ Wichtig wäre, die bereits anwachsenden sozialen Ungleichheiten mit sozialen Innovationen zu mindern. Künftig müssen wir in unserer Komfortzone wohl mit mehr Krisen und Herausforderungen rechnen, uns darauf auch mental einstellen. Und für die Politik und uns alle lautet die Gretchenfrage: Wollen wir erforderliche Veränderungen möglichst durchdacht, fundiert und systematisch durchführen? Oder wollen wir – wie jetzt – in Panik und autoritär-technokratisch reagieren, wenn es zu spät ist? „Transformation by Design or by Desaster“ ist die Frage. Dazu gehört auch Abschied zu nehmen von einer unsäglichen, egoistisch-egozentrischen Version von Freiheit, nämlich einer zerstörerischen Freiheit.
Werden uns nach den Erfahrungen mit dem Virus andere einschneidende Entscheidungen in Zukunft leichter fallen? Ich denke an den Klimawandel … Eine solch globale Krise wird bei manchen Menschen ein Innehalten, ein selbstkritisches Nachdenken befördern, und hoffentlich die Bereitschaft für Veränderungen und eine „neue Normalität“ stärken, die dringend nachhaltig sein muss. Die Pandemie ist aber auch ein Weckruf für Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen in Politik und Wirtschaft: Ein „Weiter so“ ist kaum noch möglich, auch für Leute in einer Wohlstandsblase wie bei uns in Deutschland und Steglitz-Zehlendorf. Da ist ein Umdenken, ein „Mind-shift“, bitter nötig: Wir sollten erstens einen Blick zurückwerfen auf dass, was wir alles durch „Fortschritte“ verloren haben. Zweitens sollten wir den Blick auf andere Kulturen richten und überlegen, warum einige zufriedener oder gar glücklicher sind als wir. Und drittens muss ein Blick nach vorne erfolgen: Wie will ich und wie wollen wir eigentlich leben, was ist uns und was ist für künftige Generationen wirklich wichtig? Ich bin beispielsweise sicher, dass in einigen Jahren die Nutzer von SUVs betrachtet werden als würden sie mit einem Sechsspänner durch die Schloßstraße holpern: völlig out-datet, schädlich, absurd und lächerlich. Sie wären ein Fall für Therapeuten.
Im Herbst wird gewählt: Welche Zukunft sagen Sie der Stadt voraus wenn erstmalig eine Grüne Regierende Bürgermeisterin werden würde? Voraussagen machen die Meteorologen oder Hellseher, wir Zukunftsforscher untersuchen mit unserem systemischen Denken eher Möglichkeitsräume, Handlungspotenziale, deren Voraussetzungen sowie Chancen und Risiken. Und damit können wir durch Trendanalysen und Konzepten wie Pfadabhängigkeit durchaus fundierte Einschätzungen über Zukünfte abgeben. Ich vermute, dass mit Grün-Rot oder Grün-Rot-Rot der Bezug zu nachhaltiger Politik – wie es übrigens viele heutige Senatsstrategien und wissenschaftliche Konzepte bereits formulieren und fordern – noch intensiver verfolgt und umgesetzt werden würden. Nicht zuletzt deshalb, weil der Handlungsdruck weiter steigen wird. Bei schwarzer Regierungsbeteiligung könnten die Innovationen hingegen verzögert und andere traditionelle Schwerpunkte gesetzt werden. Das alles hängt aber von uns Wählenden ab, denn auch nach den Wahlen braucht es Engagement, wenn es zu Verbesserungen kommen soll.
Im Bezirksparlament gibt es noch immer kein Video-Streaming, Laptops sind im Rathaus rar und die Schulen surfen teilweise mit 16 kbit/s: Sind Sie überhaupt als Zukunftsforscher im Südwesten im richtigen Bezirk? Steglitz-Zehlendorf ist wie jeder andere Bezirk ein „richtiger Ort“, denn wir schauen ja nicht nur nach dem Jetzt, sondern auch nach den Potenzialen und Möglichkeiten. Und es geht uns meist darum, was die Menschen selber wollen, wünschen und können, was sinnvoll und machbar ist beziehungsweise machbar gemacht werden muss. Dabei spielen die jungen Generationen – wie schon immer – eine wichtige Rolle. Daher ist die Lehre an der FU und der Unterricht im Dreilinden-Gymnasium so wichtig und auch lehrreich für mich als Zukunftsforscher. Denn dort werden digitale Techniken genutzt und damit experimentiert, also auch Zukunft gebaut. Und es wird kenntlich, was in Menschen und ihren Organisationen steckt, was und wie gemeinsam verbessert und verändert werden kann und muss. Das geht nur in gemeinsamen Lernprozessen. Lernen kann man in Steglitz-Zehlendorf übrigens recht gut – das ist aber ausbaufähig. – Text: Boris Buchholz
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Dieser Text erschien zuerst im Tagesspiegel für Steglitz-Zehlendorf. Die 12 Bezirksnewsletter vom Tagesspiegel gibt es, Bezirk für Bezirk, kostenlos hier: leute.tagesspiegel.de
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