Nachbarschaft
Veröffentlicht am 14.01.2021 von Boris Buchholz
Während 100.000 Schülerinnen und Schüler in der ersten Schulwoche im Januar ihren digitalen Schultag nicht beginnen konnten, weil die berlineigene Online-Plattform „Lernraum Berlin“ nicht funktionierte, gingen bei Antje Lükemann, der Leiterin des Gymnasiums Steglitz, ganz andere „Beschwerden“ ein: Eltern monierten, dass der Online-Unterricht an dem grundständigen Gymnasium in der Heesestraße 15 zu gut funktioniere – es seien für manche Schülerinnen und Schüler schlicht zu viele Videokonferenzen über den Schultag. Der Clou: Die Schule hat sich ein eigenes System für das „schulisch angeleitete Lernen zu Hause“ gebaut, zwei Lehrer und ein IT-Experte haben sich dem Projekt gewidmet. Während Informatik- und Mathematik-Lehrer Michael Specht, 39, über die Sommerferien programmierte, kümmerte sich Jonas Winkler (Erdkunde, Biologie, 33, rechts im Bild) darum, dass alle nötigen Geräte eingerichtet waren, funktionierten und alle damit umgehen konnten. Die technische Anbindung der Schule und den Support für die notwendigen Server übernahm in seiner Freizeit Daniel Chobe (Ingenieur, 41, links im Bild). Erst wurde die eigenständig entwickelte Plattform „Dashboard“ genutzt, um Schülerinnen und Schüler, die in Quarantäne waren oder Risikogruppen angehörten, auch aus der Ferne den Schulbesuch zu ermöglichen – Streams aus dem Klassenraum inklusive. Seit dem 16. Dezember beweist das „Dashboard“ beim Homeschooling für alle etwa 800 Schülerinnen und Schüler, was es kann – und strukturiert übersichtlich den digitalen Schulalltag.
Meine Herren, wieviele Videokonferenzen fanden denn in der ersten Schulwoche 2021 statt?
Daniel Chobe: Wir hatten in der ersten Schulwoche Anfang Januar für jede Klasse im Durchschnitt vier Stunden Video-Unterricht über das Programm Jitsi, pro Tag 260 gleichzeitige Teilnehmer im Durchschnitt, 550 in der Spitze.
Jonas Winkler: An manchen Tagen gehen die Konferenzen direkt ineinander über – das fühlt sich wie ein relativ normaler Schultag an.
Eine von den Videokonferenzen haben Sie mit mir gemacht: Das zentrale Element im „Dashboard“ ist für die Nutzerinnen und Nutzer ein ganz normaler Stundenplan – warum ist das so wichtig?
Michael Specht: Moodle, die Software, auf dem der Lernraum Berlin basiert, wurde für Hochschulkurse entwickelt. Bei uns an der Schule ist jedoch der Stundenplan zentral, und den wollten wir gern abbilden, da er den Tag für unsere Schülerinnen und Schüler strukturiert. Das Dashboard zeigt den Stundenplan mit aktuellen Änderungen, die sich aus dem Vertretungsplan ergeben, und es zeigt genau, was in welcher Stunde behandelt wird und wie jede Stunde durchgeführt wird. Dies kann zum Beispiel per Videochat mit Jitsi sein, oder es gibt Aufgaben in der NextCloud oder im Lernraum Berlin. Auch Hausaufgaben können eingetragen werden.
Winkler: Das Dashboard ist für alle Beteiligten eine tolle Planungsgrundlage. Bereits im Vorfeld ist ersichtlich, welche Inhalte für eine Stunde geplant sind und wie eine Stunde abgehalten werden soll. Das ist für mich als Lehrkraft eine tolle Hilfe, wenn es an die Planung von Unterrichtsreihen geht und für die Schüler eine Erleichterung, die Übersicht im Homeschooling zu behalten.
Chobe: Der Stundenplan ist der zentrale Anlaufpunkt für Lehrer und Schülerinnen und Schüler. Im Laufe der Zeit haben wir immer weitere Informationen eingebaut: Zum Beispiel ob ein Schüler nun in der A– oder B-Gruppe ist. Das Dashboard hilft uns auch, die Last des Servers für die nächsten Tage abzuschätzen, denn die Anzahl der Videokonferenzen sind ja fest geplant.
Specht: Wir wissen vorher, wie viel Publikum wir haben werden.
Sie verlinken auf bestehende und bewährte Lösungen: Wie haben Sie es geschafft, dass das alles mit dem Datenschutz konform ist?
Chobe: Indem es auf eigens angemieteteten Servern innerhalb von Deutschland läuft und der Zugang nur durch bekannte Personen stattfindet. Eine durch Drittanbieter betriebene Jitsi-Instanz reicht für den Datenschutz leider nicht aus, es müssen schon eigene Server sein. Außerdem achten wir darauf, welche Informationen überhaupt gespeichert werden. Datensparsamkeit ist hier das Stichwort. Wir speichern keine Toninhalte, keine Videoinhalte und auch keine geteilten Bildschirminhalte. Wir haben keinen Zugriff auf Inhalte, ohne den Raum aktiv zu betreten und für alle Teilnehmenden im Raum sichtbar in Erscheinung zu treten.
Specht: Zudem haben wir dafür gesorgt, dass der Zutritt in einen Jitsi-Raum nur für die Personen möglich ist, die diesen Raum auch betreten dürfen. Jeder tritt zwangsweise mit seinem Klarnamen ein. Das macht den virtuellen Klassenraum zu einem sicheren Raum, in dem man jederzeit weiß, wer anwesend ist.
Sie haben mir eine Beispielschülerin aus der 5. Klasse gezeigt, die in der letzten Woche sage und schreibe elf Videokonferenzen und ebenso viele Unterrichtsstunden mit einem Online-Chat im Plan stehen hatte. Wie hoch ist die Rate des digitalen Schulbesuchs?
Specht: Wir erreichen mit dem Dashboard 99 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler.
Und wie schaffen Sie das?
Specht: Jeden Morgen beginnen wir mit einer Jitsi-„Präsenzstunde“, in der wir die Anwesenheit überprüfen.
Winkler: Es ist wichtig für die Schülerinnen und Schüler, dass der Kontakt verlässlich besteht. In der ersten Stunde des Tages bespreche ich auch mit ihnen, wie der weitere Schultag abläuft, ob es Probleme gibt, ob weitere Hilfe benötigt wird. Wie an einem normalen Schultag in der eigenen Klasse auch. Das ist für alle Beteiligten ein kleines Stück Normalität in diesen ganz besonderen Tagen.
Wie gehen Sie denn damit um, dass nicht jedes Kind und jeder Jugendliche einen eigenen Computer besitzt?
Winkler: Wir haben an den letzten Schultagen erhoben, wer zusätzlich zur öffentlichen Verteilung noch Endgeräte benötigt – zum Beispiel wenn sich eben doch mehrere Geschwisterkinder zu wenige Geräte teilen müssen. In diesen Fällen und auch, wenn sich jetzt noch Engpässe auftun, können wir auch unsere Schultablets verleihen. Dafür haben diese Geräte ein vorbereitetes Profil mit den nötigen Apps. Bei der Rückgabe werden diese Geräte dann zurückgesetzt. Wer zu Hause keine stabile Internetverbindung zur Verfügung hat, erhält ein Leihgerät und einen Arbeitspatz in der Schule und kann hier das WLAN-Netz nutzen.
Irgendwann wird es wieder zu Präsenz- oder Wechselunterricht kommen und nicht alle Lehrer und nicht alle Schüler werden im Klassenraum sein können. Wie sind Sie darauf vorbereitet?
Winkler: Für den Wechselunterricht können wir die vorbereiteten Schultablets nutzen. Je Klasse gibt es ein Streaming-Amt: Je zwei Schüler holen Geräte und Kabel ab und bauen sie in den Klassenräumen auf. Alle Kolleginnen und Kollegen, die es wünschen, können auf diese Betreuungsmethode zurückgreifen. Auch während des vollständigen Präsenzunterrichtes vor Weihnachten konnten einige Schüler auf diesem Weg betreut werden. Aber auch in der anderen Richtung kam die Technik zum Einsatz: Kurse und Klassen wurden von Kollegen aus der Ferne unterrichtet – per Videostream in den Klassenraum.
Jetzt mal analoge Butter bei die digitalen Fische: Können das andere Schulen auch und geben Sie das Dashboard weiter?
Specht: Das Dashboard basiert auf freier Software und ist so selbstverständlich auch frei. Der Quellcode liegt auf unserem GitLab-Server, für den wir Interessierten gern einen Zugang einrichten.
Chobe: Aufwändiger ist der Betrieb des Servers für NextCloud und Jitsi. Für diese Anzahl an Teilnehmern reichen die normalen Konfigurationen eines Server nicht aus, da musste einiges angepasst werden. Jetzt benutzen wir drei Server: Einen Hauptserver und zwei weitere, über die die Videodaten geleitet werden. Fällt einer der Videoserver aus, übernimmt der andere sofort. Auch Themen wie Monitoring und Backup dürfen nicht außer acht gelassen werden.
Winkler: Absolut unverzichtbar ist die Ausstattung im Schulhaus. Das fängt bei einer Gigabit-Netzwerwerkverkabelung an und hört bei bei schulweitem WLAN auf. Wir verfügen glücklicherweise über Breitbandanbindung an das Internet. Und: Die eingesetzten Endgeräte müssen administrierbar sein.
Chobe: Ein Problem waren die notwendigen Upload-Raten für das Videostreaming in die Schule zu bekommen. Die Geschwindigkeit der DSL-Verbindung konnte nicht weiter erhöht werden, aber da noch weitere Kupferleitungen frei waren, konnte ein weiterer DSL-Anschluss beauftragt werden. So konnten wir unsere Bandbreite verdoppeln. Ein OpenSense-Server sorgt nun für die gleichmäßige Verteilung der Internetverbindung über die beiden DSL-Anschlüsse.
Ich ziehe meinen Hut, das klingt nach einem großen und erfolgreichen Projekt – und viel Arbeit. Sehen Sie sich eher als Lehrer mit digitalem Hobby oder als Systementwickler, die auch noch unterrichten?
Specht: Ich sehe mich als Teil eines Kollegiums, das zum Ziel hat, während der Pandemie den bestmöglichen Kontakt zu unseren Schülerinnen und Schülern zu halten. Der Mangel an verfügbaren, funktionierenden und datenschutzrechtlich unbedenklichen Möglichkeiten, gepaart mit dem an unserer Schule vorhandenen technischen Know-How sowie der nötigen Infrastruktur und Motivation im Kollegium haben zu diesem Ergebnis geführt.
Winkler: Für mich gibt es da kaum eine Trennung. Schon vor der Pandemie habe ich mich intensiv mit der Nutzung digitaler Elemente im Unterricht beschäftigt, bin zu den enstprechenden Fortbildungen gereist und habe nach dem Multiplikatorprinzip mein Wissen bestmöglich weitergegeben. Und rückblickend war es ein gutes Timing: Die Nutzung und Integration der NextCloud beispielsweise haben wir gemeinsam ein Jahr vor der Pandemie an einem Studientag, neben vielen weiteren Aspekten des digitalen Unterrichtes, trainiert. – Text: Boris Buchholz
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