Nachbarschaft

Veröffentlicht am 11.03.2021 von Boris Buchholz

Die Behandlung von Frauen mit Genitalverstümmelung wird an den deutschen Universitäten nicht gelehrt. Uwe von Fritschen, Chefarzt der Plastischen und Ästhetischen Chirurgie am Helios Klinikum Emil von Behring, stört das. Seit 14 Jahren lebt der 60-jährige Mediziner in Zehlendorf-Mitte. In der Woche des Internationalen Frauentags sagt er: „Es wird Zeit, dass Genitalverstümmelung endlich beendet wird.“ Im Gespräch erklärt er auch, dass es nicht ratsam sei, von oben herab mit der Tradition der Female Genital Mutilation (FGM) umzugehen – nur mehr Wissen würde dagegen helfen.

Herr von Fritschen, mit der Plastischen Chirurgie bringe ich die Rekonstruktion und Verschönerung von Körperteilen in Verbindung. Ich denke allerdings eher an Gesicht, Brust oder Arme. Wie kam es, dass Sie sich der Behandlung von Frauen widmeten, deren Geschlechtsorgane beschnitten worden sind? Wir befassen uns in der Plastischen Chirurgie ganz überwiegend mit der Rekonstruktion und Wiederherstellung nach Verletzungen, Tumoren oder angeborenen Fehlbildungen. Daher habe ich auch bereits seit langer Zeit Rekonstruktionen im Genitalbereich zum Beispiel nach Tumoren oder entzündlichen Erkrankungen durchgeführt. Hinzukommt, dass wir auch ein Zentrum für genitalangleichende Eingriffe bei trans* Patientinnen sind. Ich habe also eine sehr lange Erfahrung auch in diesem Bereich.

Und wie haben Sie die nötigen Behandlungsmethoden erlernt? Soviel ich weiß, steht die Wiederherstellung einer Klitoris nicht auf dem Lehrplan im Medizinstudium. Das ist richtig. Daher mussten wir anfänglich auch auf die bewährten Techniken zurückgreifen, die wir bereits bei anderen Indikationen verwendet haben. Entscheidend war dann aber der internationale Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, die bereits mehr Erfahrung in diesem Bereich haben. Diese Techniken habe ich dann weiterentwickelt. Um die Situation in der Ausbildung zu verbessern, haben wir – das sind Cornelia Strunz und Roland Scherer vom Krankenhaus Waldfriede und ich – kürzlich ein Lehrbuch publiziert, das alle Aspekte der Betreuung der Betroffenen beinhaltet. Es geht also nicht nur um reine chirurgische, sondern insbesondere auch um psychotherapeutische, juristische, sexualtherapeutische und soziale Ansatzpunkte. Besonders wichtig war uns hierbei auch, den komplexen sozialen Hintergrund dieses Ritus und den enormen sozialen Druck der auf den Betroffenen lastet, darzustellen.

Bitte beschreiben Sie: Wie verbreitet ist die Female Genital Mutilation, die Verstümmelung der Genitalien von Mädchen und Frauen, in der Welt und speziell bei uns in Deutschland? Weltweit sind etwa 200 Millionen Frauen von FGM betroffen. Die WHO schätzt, dass jährlich etwa drei Millionen hinzukommen. Durch Migration werden auch wir in Europa zunehmend damit konfrontiert. Wichtig zu wissen ist, dass FGM keine Frage des Glaubens ist, sondern der regionalen Sitten. Diese können auch innerhalb eines Landes deutlich unterschiedlich sein. Jedenfalls sind alle Glaubensrichtungen innerhalb einer Region in gleicher Weise beteiligt. Dies zeigt sich besonders daran, dass sich mit einem Wechsel des Wohnortes auch die Einstellung hierzu ändert. Oft wird vermutet, dass es sich um ein rein afrikanisches Problem handelt. Tatsächlich wird es weltweit in zahlreichen Ländern praktiziert, nicht zuletzt auch in westlichen Ländern noch bis in die 1960-er Jahre. Bei uns besteht auch heute für viele Mädchen eine hohe Gefahr, in Deutschland ist FGM zunehmend Thema. Wir gehen hier derzeit von rund 60.000 betroffenen Frauen und etwa 15.000 gefährdeten Mädchen aus.

Wie schwer fällt es Ihnen, dass Sie zwar der einzelnen Patientin helfen können, Ihre Arbeit aber an dem grundlegenden Problem nichts ändert? Das ist natürlich ein grundsätzliches Problem aller Hilfsbemühungen bei sozialen Missständen. Trotzdem scheint mir Resignation vor dem Problem auch keine akzeptable Lösung. Vielmehr empfinde ich es als großes Glück, Einzelnen helfen zu können. Auch wenn es im Blick auf das Ganze nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein sein mag, bedeutet es für die Betroffenen in jedem Fall wesentlich mehr. Häufig eine völlig neue Selbstwahrnehmung und ein erster Schritt zu einem selbstbestimmten Leben.

Wie kann FGM bekämpft werden? Der Weg aus diesem Ritus ist Wissen. Man muss verstehen, dass die Eltern ihren Kindern ja nicht schaden wollen, sondern in ihrem Sozialsystem rigiden Vorgaben unterworfen sind, die bei Missachtung gravierende Folgen haben. Wir unterstützen daher Aufklärung und Therapieprojekte in den betroffenen Ländern, bilden aber auch in Deutschland Gesundheitsdienstleister aus, die über die schwerwiegenden Folgen in dem jeweiligen sozialen Umfeld aufklären und gegebenenfalls kompetente Hilfe anbieten können.

Ist es ein Problem für die Frauen und die Behandlung, dass Sie ein Mann sind? Nein, das habe ich bisher noch nicht erlebt. Wir versuchen die Erstberatung und die eigentliche Betreuung durch die Ärztin in unserem Team sicherzustellen. Dies ist aus vielerlei Hinsicht sinnvoll. Allerdings versuche ich alle Frauen, die ich operiere, vor dem Eingriff zu untersuchen und die Behandlungswünsche abzugleichen. In der Regel wird das als hilfreich wahrgenommen. Nur selten bitten sie, darauf zu verzichten. In diesen seltenen Fällen bespreche ich anhand eines Fotos den Operationsplan.

In einem Text zum Internationalen Tag gegen Genitalverstümmelung, er war am 6. Februar, schrieben Sie, dass Sie und Ihre Kollegen den Mädchen und Frauen „die Würde zurückgeben würden“. Kann das ein Chirurg oder eine Chirurgin überhaupt leisten? Da sprechen Sie einen ganz wichtigen Punkt an. Auch wir gingen anfänglich davon aus, dass die rein medizinischen, also körperlichen Probleme im Vordergrund stehen. Dies ist jedoch nur bedingt richtig. Es ist für uns immer sehr ergreifend und belastend zu sehen, in welchem gravierenden Umfang dieser grausame Eingriff die Psyche der Betroffenen zerstört. Daher ist das Angebot einer körperlichen Rekonstruktion nur ein Schritt auf einem langen Weg. Wir versuchen dem Rechnung zu tragen, indem wir mit einer Selbsthilfegruppe den Rahmen für Gespräche unter Betroffenen in einem geschützten Umfeld geschaffen haben. Es ist häufig das erste Mal in ihren Leben, dass überhaupt Möglichkeiten zu Austausch und Gesprächen bestehen. Zudem haben wir Sexualtherapeutinnen und -therapeuten im Team, die ebenfalls eine große Hilfe sind.

Die bekannteste Adresse für die Behandlung von FGM in Steglitz-Zehlendorf und in ganz Berlin ist das Desert Flower Center am Krankenhaus Waldfriede. Wie arbeiten Sie mit den Kolleginnen und Kollegen einige hundert Meter weiter zusammen? Wir im Behring-Krankenhaus haben uns FGM gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen im Krankenhaus Waldfriede angenommen. Im Desert Flower Center unter der Leitung von Cornelia Strunz und Roland Scherer finden Frauen mit FGM medizinische und psychosoziale Unterstützung. In dem Projekt der Desert Flower Foundation von Waris Dirie, arbeiten zahlreiche Fachdisziplinen zusammen, um den traumatisierten Patientinnen eine optimale Versorgung zu ermöglichen. Bei der Plastischen Chirurgie komme ich hinzu, um die körperlichen Folgen der Verstümmelung zu korrigieren. So kann die Klitoris wiederhergestellt werden, der Scheideneingang erweitert und auch schmerzhafte Narben lassen sich verbessern.

Angenommen, Sie hätten am Montag, also am Internationalen Frauentag, eine Rede halten müssen, was wäre Ihre Botschaft gewesen? Es sind leider viele Punkte, die erläutert werden müssen, da FGM bei uns immer noch weitgehend unbekannt ist. Besonders aber wäre es mir wichtig, zu versuchen, die Zerrissenheit dieser Familien zu vermitteln. Um einen Zugang auf Augenhöhe mit den Betroffenen zu finden, muss man den komplexen sozialen Hintergrund verstehen. In jeder Gesellschaft gibt es Bräuche, die keinen rationalen Hintergrund haben, aber identitätsstiftend sind. So wird FGM empfunden. Ohne Beschneidung gelten die Mädchen als unrein, können nicht heiraten und die Familie wird von der Gesellschaft ausgeschlossen. Ein sozialer Fall und existenzielle Armut sind dann oft die Folge. Die Eltern wollen ihren Mädchen also in der Regel lediglich ein normales Leben in ihrem Umfeld ermöglichen. Über die medizinischen Folgen wissen sie meist sehr wenig.

Bitte erklären Sie diese Zerrissenheit. Die Betroffenen stehen in einem sehr schwierigen Gewissenskonflikt. Auf der einen Seite wollen sie ihr Leben in die Hand nehmen und einen selbstbestimmten Weg gehen. Auf der anderen Seite machen sie dadurch indirekt ihren Eltern einen Vorwurf und stellen sich offen gegen ihre gesamte Gemeinschaft. Wenn wir wirklich auf sie zugehen wollen, müssen wir unseren Blickwinkel von oben herab aufgeben. Belohnt wird man mit der Bekanntschaft zu Menschen, die bei mir großen Eindruck hinterlassen haben. Eindrucksvolle junge Frauen, die mit enormer Energie und Entschlusskraft ihr Leben aufbauen. Nach hoffnungsloser Jugend, schrecklichen Erfahrungen auf einer Flucht, Ankommen allein in einem Land mit vollkommen anderen Wertvorstellungen und ohne Sprachkenntnisse, haben sie häufig mit viel Fleiß inzwischen einen Schulabschluss und Anstellung gefunden. Sie verdienen unsere Unterstützung – es wird Zeit, dass endlich FGM beendet wird.

Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: boris.buchholz@tagesspiegel.de

Text: Boris Buchholz
Foto: Thomas Oberländer, Helios Kliniken
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