Nachbarschaft
Veröffentlicht am 12.05.2021 von Boris Buchholz

Dass sie beruflich ein Doppelleben führt, ist kein Geheimnis: Als Chanson-Nette strahlt sie auf der Bühne bei Swing, Schauspiel und Liedern von Friedrich Hollaender bis Claire Waldoff Lebensfreude pur aus. Und als HNO-Ärztin engagiert sich Jeannette Urzendowsky für die Gesundheit ihrer Patientinnen und Patienten. Die 59-Jährige aus Lichterfelde ist nicht nur Ehrenbotschafterin des Deutschen Kabarettarchivs in Mainz, sie ist auch Impfärztin im Impfzentrum in der Arena. Ein Gespräch über Erlebnisse in der Impfkabine, zu hohe Arzthonorare und das Glück, das ihr die Kunst vermittelt.
Frau Urzendowsky, wie sah denn Ihr erster Kontakt mit dem Gold der Neuzeit, dem Impfstoff, aus? Mein erster Impfdienst, das war Mitte Februar: Das Team war mobil unterwegs und ich musste den Impfstoff im Flughafen Tegel abholen, mit Antigen-Test vorher, einchecken und persönlicher Entgegennahme des Impfstoffes. In meinem Team waren zwei Bundeswehrsoldaten, ein Sachse und einer vom Niederrhein, kräftige lange Lulatsche. Aber weil ich die Ärztin war, musste ich die Kühlkiste mit dem Impfstoff von Biontech/Pfizer tragen. Die war gefühlt einen Quadratmeter groß — innen drin waren zwei kleine Ampullen! Und ich mit 1,53 Metern konnte beim Tragen nicht drüber gucken. Ich lief zwischen diesen langen Kerlen und fragte dann, ob die mir nicht die Kiste abnehmen könnten. „Nein, das darf ich nicht“, war die Antwort – aber als wir um die Ecke waren und uns keiner mehr sehen konnte, hat dann der Sachse die Kiste getragen. Und dann ging es in ein Heim zu Beatmungspatienten im Wedding.
Jetzt haben Sie regelmäßig Dienste im Impfzentrum in der Arena … Alle drei oder vier Wochen. Wenn du so einen Dienst buchen willst, dann musst du Nerven wie Stahlseile haben, weil Du ständig aus dem System rausfliegst und dann ist der Termin schon weg.
Das kennen die Menschen, die sich impfen lassen wollen, auch. Warum sind denn die Impfdienste bei den Ärzten so beliebt? Es lohnt sich sehr. Natürlich finde ich es richtig, dass die Ärzte ein vernünftiges Salär bekommt. Aber Ärzte kriegen in Berlin 120 Euro die Stunde, das ist viel zu hoch. Nicht alle Ärzte bieten ihre bestimmt gute Impfleistung aus humanistischen Gründen an. In der Folge gehen die Impfdienste weg wie warme Semmeln.
Sie machen doch auch mit … Ich setze mich dafür ein, dass wir von unserem Salär 30 Euro für Künstlerinnen und Künstler spenden, die in der Luft hängen und keine Zuwendungen bekommen.
Ist es denn nicht langweilig, als hochqualifizierte Ärztin Stunde um Stunde die gleichen Dinge zu sagen und immer die gleiche Spritze zu geben? Erstmal vorab: Pro Schicht kann ich zusammen mit einer Medizinischen Fachangestellten etwa 80 bis 90 Patienten impfen. Wir sind die letzte Instanz, wir müssen die Menschen aufklären und beraten. Wenn etwas nach der Impfung schief geht, müssen wir dafür gerade stehen, weil ich die Spritze gesetzt habe. Eigentlich ist Impfen für einen Arzt Pillepalle, eigentlich ist es ein langweiliger Job – wo der Musculus deltoideus sitzt, das weiß man irgendwann. Und trotzdem ist es nicht eintönig: Es ist eine gemeinschaftliche humanistische Arbeit. Es ist eine Arbeit, die nicht nur unsere Stadt mit ihren schrulligen Schrägheiten schützen soll, sondern es ist eine globale Aktion. In Peru werden die Menschen in der Kirche geimpft, in Amerika im Supermarkt und an der Tankstelle und bei uns in den Impfzentren und inzwischen in den Praxen. Wir versuchen, eine weltweite Seuche in den Griff zu bekommen. Und wenn man sich das bewusst macht, ist es nicht mehr langweilig.
Erzählen Sie, was erleben Sie in der Impfkabine? Am Anfang kamen kranke und hochbetagte Menschen. Schwierig war es, wenn ältere Leute kamen, die nicht recht wussten, warum sie im Impfzentrum sind. In der Regel waren dann Angehörige oder Betreuer dabei. Aber manches Mal gab es diese Begleitung nicht. Da war zum Beispiel eine Patientin, die total desorientiert war – aber sie war eine alte Tagesspiegel-Leserin. Die Zeitung steckte in der Tasche und sie versuchte ihre beginnende Demenz dadurch zu überspielen, in dem sie mir von den verschiedenen Autoren erzählte und rezitierte, von wem sie einmal was gelesen habe. Gleichzeitig war sie völlig orientierungslos: Sie wusste nicht, was sie nach der Impfung machen sollte, sie wusste nicht, dass sie ein zweites Mal kommen muss. Sie konnte weder den Anamnesebogen ausfüllen, noch wußte sie, wer ihr Hausarzt ist. Ich habe ihr dann alle Hausärzte aus ihrem Kiez aufgezählt und am Abend habe ich der Praxis noch geschrieben, dass diese Patientin Betreuung benötigt.
Ist es denn oft so dramatisch? Es kommt alles vor – auch sehr schöne Momente. Ein alter Herr hatte sich ganz chic gemacht, buntes Hemd, feiner Anzug, Weste, Hut und Krawattentuch – richtig toll. Es ist ja auch eine besondere Wertschätzung, dass ich geimpft werde, sagte er. Das hat mich total umgehauen. Ein anderes Mal machte eine Frau ihre Tasche auf und verschenkte aus Dankbarkeit an den Bundeswehrsoldaten und die Mitarbeiterin mit der grünen Weste von der Betreuung ganz edle Schokoladenpäckchen.
Was nehmen Sie aus diesen Situationen mit? Dass hinter jeder Spritze, die ich setze, eine Menschenseele steht. Da kommt zum Beispiel eine Frau weinend in die Kabine. Ich frage nach – und dann bricht es aus ihr heraus: „Mein Mann liegt auf der Intensivstation in Neukölln im Sterben und ich darf ohne Impfung nicht zu ihm, ein negativer Schnelltest reicht auch nicht.“ Am allerschlimmsten war für sie gewesen, dass sie sich nicht von ihm verabschieden konnte, ihm nichts mehr sagen konnte. Da muss man sich schon zusammenreißen. Beim letzten Impfdienst war es ein Mann, der in Tränen ausbrach, als ich ihn fragte, ob er geimpft werden wolle. Es sei ja eh’ alles egal. Seine Frau sei gestern gestorben, nächste Woche werde sie beerdigt, er würde sich am liebsten daneben legen.
Sie sind Ärztin, Sie arbeiten in einer Gemeinschaftspraxis — und Sie sind Musikerin: Als Chanson-Nette singen Sie die Musik der 1920-er und 1930-er Jahre. Wie passt das zusammen? In meiner Brust schlagen einfach zwei Herzen – wenn ich nicht singe, bin ich nicht ich. Ich zehre vor Freude von jedem Auftritt, ich habe dann für die ganze kommende Woche ein Glücksgefühl. Und das nehme ich natürlich auch in die Praxis mit oder ins Impfzentrum. Meine gute Laune und meine positive Energie, die kommt ganz viel von der Kunst. Ich arbeite, wenn man es in Arbeitsstunden betrachtet, zum größeren Teil als Künstlerin und weniger als Ärztin. Finanziell sieht das ganz anders aus.
Macht Sie die Kunst glücklich? Ja, aber nicht nur. Meine Arbeit als Ärztin macht mich auch glücklich. Aber das tiefe Glück, das ich nach außen zeigen kann, ist auch ein Resultat eines großen persönliches Glücks. Ich weiß gar nicht, ob ich zu all dem fähig wäre, wenn ich nicht im Privaten auch so ein Glück hätte. Toi, toi, toi, ich klopfe gleich auf Holz. Es ist so vermessen, vom eigenen Glück zu erzählen, andere Leute verlieren es ständig. Also: Ich gebe gerne jedem, dem es gerade total mies geht, eine große Portion Glück und positive Energie ab!
Zum Beispiel über Ihre Auftritte: Vor zwei Wochen standen Sie im Ballhaus Walzer links gestrickt auf der Bühne. Ja, im Live-Stream, das Video ist immer noch online. Aber seit Monaten sind ja alle Auftritte abgesagt. Ganz klar: Wir spielen im Kleinkunstbereich. Wir machen weder Schlager noch Pop oder Mainstream, wir füllen kein Olympiastadion mit unserer Musik. Wir machen Kleinkunst für ein kleines, feines Theaterpublikum.
Und das heißt: Mit der Kunst bleibt im Portemonnaie nicht viel hängen? In der Kleinkunstbranche gehst Du nach einem Auftritt mit ungefähr 100 Euro, höchstens mal 250 Euro in der Tasche nach Hause. In den letzten Monaten war es noch weniger bis nichts. Da habe ich zu Spenden aufgerufen und selber gespendet. Das kann ich nur machen, weil ich auch Ärztin bin. Meine Bühnenkollegen haben ganz schön zu knabbern; finanziell trägt mich die Medizin.
Und wann kann man Sie als Chanson-Nette wieder live auf der Bühne erleben? Wir haben für den Mai geplante Auftritte in der Mutter Fourage in Wannsee verschoben: Laut Plan geht es am 19. Juni mit „Ich hätt‘ getanzt heut‘ Nacht“ wieder los. Und am 7. August geben wir am gleichen Ort „Voll uff Swing“. Wer mich eher erleben will, der muss eben ins Impfzentrum kommen.
- Text: Boris Buchholz
- Foto: Oliver Betke
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