Nachbarschaft
Veröffentlicht am 07.04.2022 von Boris Buchholz

Geboren wurde Olga Pischel (auf dem Foto bei einer Diskussionsveranstaltung) in Charkiw, der Partnerstadt Steglitz-Zehlendorfs in der Ukraine. Die 57-Jährige ist selbständige Unternehmensberaterin. Seit 2014 ist sie Mitglied des Städtepartnerschaftsvereins des Bezirks – seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine vor fünf Wochen koordiniert sie im Verein die Hilfe für Charkiw. Ehrenamtlich. Dabei ist es eine Mammutaufgabe, eigentlich ein zweiter Vollzeitjob.
Frau Pischel, wie ist die aktuelle Lage in Charkiw? Die Lage in Charkiw ist weiterhin sehr, sehr dramatisch. Seit dem 24. Februar, dem Tag, als der Krieg begann, wird die Stadt bombadiert, jeden Tag, jede Nacht. Es gab nur ganz wenige Tage, in denen es in der Stadt ruhiger war. Doch meist war der Beschuss aus der Luft und vom Boden ganz massiv. Die russische Stadt Belgorod liegt nur 40 Kilometer nordöstlich von Charkiw. Daher ist es natürlich strategisch für die russischen Streitkräfte einfach, die Stadt völlig zu zerstören. Und das wird getan.
Wie ist die humanitäre Situation? Sehr schwierig. Etwa 1500 zivile Gebäude wurden vernichtet, darunter 15 Krankenhäuser, fast 70 Schulen und 15 Kitas. Aber auch die Infrastruktur wurde massiv zerstört – Wasserleitungen und auch teilweise die Gasleitungen.
Gibt es noch Strom und Wasser in der Stadt? Ja, im Großen und Ganzen gibt es noch Wasser und Energie, in manchen Stadtteilen wird das anders sein. Ich habe gehört, dass zum Beispiel im Stadtbezirk Industrialny die kommunalen Dienstleistungen funktionieren. Meine Kontakte schicken mir Fotos davon, wie sie aufräumen, wie sie zerstörte Fenster mit Holzplatten reparieren. An einigen Stellen werden auch die Wasserleitungen repariert. Dennoch bleibt das Wasser eines der zentralen Probleme der Stadt.
Auch weil die Leitungen durch neue Angriffe wieder zerstört werden… Das stimmt. Man muss dazu aber wissen, dass das Wasser in den Leitungen unter der Straße kein Trinkwasser ist. Jedes Haus hatte – meist im Keller – eine Filteranlage, die Wasser reinigte und als Trinkwasser in die Wohnungen leitete. In vielen Häusern sind die Filteranlage durch die Bomben und Raketen zerstört worden. Diese großen Wasserfilter wurden bisher in einer Fabrik in der Nähe von Kiew gebaut; die Fabrik ist aber zerstört worden. Neue Wasserfilter und die Produktionsanlagen dafür werden in Charkiw jetzt händeringend gesucht.
Wie kann geholfen werden? Ich bin im Kontakt mit dem Rotary-Club Charkiw: Von dort kam die Idee, eine Wasserfilteranlage im U-Bahnschacht zu installieren, weil dort natürlich sehr viele Menschen leben, die ihre Wohnungen verloren haben. Ähnlich geht es den Menschen in den Kellern und Bunkern: Sie sind dort über Wochen eingesperrt, sie brauchen Wasser. Wir haben einen Rotary-Club in Berlin angesprochen, gemeinsam suchen wir nach Lösungen, wie wir Filteranlagen nach Charkiw bekommen. Wenn jemand sich mit Wasserfiltern auskennt, sind wir für Unterstützung dankbar.
Die Hilfsbereitschaft für die Ukraine-Hilfe ist groß; wie viele Spenden sind für die Unterstützung der Menschen in Charkiw beim Partnerschaftsverein eingegangen? Wir haben ungefähr 55.000 Euro auf unser Konto überwiesen bekommen. Davon haben wir bereits zwei Hilfstransporte vor allem mit Medikamenten, aber auch mit Taschen- und Stirnlampen sowie Batterien finanziert. Der größte Teil der Spenden stehen noch zur Verfügung, zum Beispiel für die Beschaffung von Wasserfiltern. Wir arbeiten in Charkiw mit der Organisation „Charkiw mit Dir“ zusammen.
Sind Sachspenden beim Städtepartnerschaftsverein willkommen? Eigentlich nur, wenn Sie Großhändler für Decken oder medizinischen Bedarf sind. Um einzelne Tüten mit Spenden zu sortieren, sie zu inventarisieren und neu zu verpacken, fehlen uns die Kapazitäten. Es gibt ganz genaue Wünsche unserer Partner in Charkiw. Zum Beispiel benötigen die Feuerwehrleute neue Arbeitsstiefel. Sie leisten eine unglaubliche Arbeit, löschen jeden Tag Feuer, laufen über Schutt, Asche und Glasscherben – der Verschleiß ihrer Ausrüstung ist sehr hoch. Sachspenden sind nicht der richtige Weg, Geldspenden sind sinnvoller und effektiver. Wir kaufen dann in großen Mengen ein.
Um was werden Sie sich morgen kümmern? Das Martin-Luther-Krankenhaus hat uns zehn Krankenhausbetten mit Nachttischen sowie eine OP-Liege gespendet, das hat die Arbeiterwohlfahrt vermittelt. Die Möbel befinden sich noch im Krankenhaus. Ich muss sehen, wie wir die Betten in ein Erholungsheim in der Nähe von Charkiw bringen; es ist so etwas wie eine ehemalige Kurklinik, in der jetzt Menschen leben, die ihre Wohnungen und Häuser verloren haben. Sehr oft sind es ältere, bedürftige und kranke Menschen, die nicht weiter fliehen können. Für den Transport dieser Menge an Betten brauchen wir einen Lkw. Auch dafür werden wir die Spenden verwenden.
Man hört, dass Charkiw belagert wird. Wie kommen die Transporte noch in die Stadt? Man gelangt noch von Westen nach Charkiw. Unsere Lieferungen werden meist über Lwiw, Ternopil und Winnyzja transportiert. Ein kritischer Punkt ist die Brücke bei Krementschuk über den Dnepr; dann geht es weiter über Poltawa nach Charkiw. Die Belagerung und das Bombardement der Stadt kommt von der nordöstlichen Seite, von der Grenze zu Russland.
Der Lkw mit den Betten würde aber nicht nach Charkiw fahren können? Nein, an der polnisch-ukrainischen Grenze müsste umgeladen werden. Dann würden kleinere Transporter, in die vielleicht jeweils zwei oder drei der Krankhausbetten passen, den Weitertransport übernehmen. Darum kümmern sich unsere ukrainischen Partner.
Frau Pischel, was liegt Ihnen noch am Herzen? Am Dienstag hat der Besitzer des privaten Zoos „Ecopark“ in Charkiw, Alexander Feldmann, in einem Youtube-Video berichtet, dass es den Park nach massiven Bombardierungen am Montag nicht mehr gibt. Zwar seien noch einige Raubtiere in ihren Gehegen, aber er könne nicht garantieren, dass morgen nicht Löwen und Tiger von dort ausbrechen. Bis Dienstagabend wollte er entscheiden, ob er die Tiere jetzt besser einschläfert oder ob es noch eine Möglichkeit gibt, sie zu retten. Dieses Video, es ist in russischer Sprache, kann man nur unter Tränen sehen.
Auf der Website des Städtepartnerschaftsvereins wird Ihnen für Ihren großen Einsatz gedankt. Wie stark belastet Sie Ihre ehrenamtliche Arbeit? Ich sehe es nicht als Belastung, es ist eine große Chance zu helfen. Die Gräueltaten, von denen ich höre, und die Zerstörung meiner Stadt, die ich sehe, machen mich sehr traurig und wütend. Durch die Arbeit kann ich etwas tun und muss nicht tatenlos zusehen. Deshalb bin ich dem Verein und den Bürgern des Bezirks und Berlins sehr dankbar. Ich tue alles, was in meiner Kraft steht, damit die Hilfe schnell dort ankommt, wo sie gebraucht wird.
Was tun Sie, um neue Kraft zu tanken? Ich habe noch kein Rezept gefunden. Die Nachricht, dass Regionen rund um Kiew befreit wurden, gab Kraft und Zuversicht. Aber dann die Bilder des Wochenendes – die Vergewaltigungen, die toten Kinder. Es gibt keine Entspannung zur Zeit, ich habe auch keinen Wunsch nach Entspannung. Gerade gestern erst habe ich einen neuen Hilferuf aus Charkiw bekommen.
Um was ging es? Eine junge Mutter mit ihrer zweijährigen Tochter muss evakuiert werden, das Kind ist schwer krank und hat wahrscheinlich ein Nierenleiden. Wir wurden gefragt, ob wir die Familie nach Berlin holen könnten und ob das Kind hier medizinisch versorgt werden könnte. Ich habe zugesagt. Ich muss mich jetzt an das Bezirksamt und an Hilfsorganisationen wenden, damit das möglich wird. Wenn im Bezirk jemand helfen könnte, vor allem bei der medizinischen Versorgung des Kindes, dann wäre das großartig.
- Spenden an den Städtepartnerschaftsverein Steglitz-Zehlendorf: IBAN DE27 1005 0000 1010 0044 05, BELADEBEXXX, Stichwort „Charkiw“.
- Kontakt zu Olga Pischel: Senden Sie eine E-Mail an o.pischel@web.de.
- Aktiv werden: Der Städtpartnerschaftsverein sucht neue und aktive Mitglieder. Mehr Informationen finden Sie auf der Website www.bsz-spv.de.
- Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: boris.buchholz@tagesspiegel.de