Nachbarschaft

Veröffentlicht am 06.10.2022 von Boris Buchholz

Wer vor über hundert Jahren vom Bahnhof Lichterfelde zur Preußischen Hauptkadettenanstalt lief, nutzte mit einiger Sicherheit das Trottoir der Sternstraße: Sie endete genau gegenüber der Kaserne an der Zehlendorfer Straße. Erst 1933 wurde die Zehlendorfer Straße vom NS-Staat nach dem preußischen Minister Karl Wilhelm Graf Finck von Finckenstein in Finckensteinallee umbenannt. Zwei Jahre später hieß auch die Sternstraße nicht mehr Sternstraße, die Nationalsozialisten machten aus ihr den Kadettenweg. Im Januar 2022 brachte die Fraktion der Linken den Antrag in die Bezirksverordnetenversammlung ein, den Kadettenweg wieder in Sternstraße rückzubenennen. Die Begründung: Mit der Sternstraße sei der jüdische Komponist Julius Stern geehrt worden, die Nazis hätten seinen Namen aus dem Stadtbild tilgen wollen. Seitdem schmort der Antrag im Ausschuss für Bildung und Kultur – er wurde bereits sechsmal vertagt.

Jetzt meldet sich Anwohner Michael Schroeren zu Wort. Der 72-Jährige wohnt seit 22 Jahren in einer Seitenstraße des Kadettenwegs; der Politologe und Autor war 15 Jahre lang Pressesprecher des Bundesumweltmininsteriums. Hier sein Gastbeitrag im Wortlaut:

„Die Umbenennungswut der Nazis, mit der sie jüdische Namen auf Straßen und Plätzen zu tilgen suchten, machte auch vor Steglitz nicht halt. So wurde, neben vielen anderen Straßen, 1935 auch die Sternstraße in Lichterfelde-West umbenannt in ‚Kadettenweg‘. Was die Nazis zu dieser Maßnahme getrieben haben könnte, ist nicht schwer zu erraten, wenn man unterstellt, was naheliegt, bisher aber nicht eindeutig nachgewiesen ist: Dass nämlich die Sternstraße dem jüdischen Musikpädagogen und Komponisten Julius Stern (1820-1883) gewidmet worden war.

Dafür liefert schon das Jahr der Benennung ein wichtiges Indiz: 1893. Wollte man zu Sterns zehnten Todestag dessen künstlerisches Wirken würdigen? Vieles spricht dafür. Immerhin hatte Stern als Gründer des Stern’schen Gesangvereins (1847), des Stern’schen Orchestervereins (1855) und des Stern’schen Konservatoriums (1850) das deutsche Musikleben in der Mitte des 19. Jahrhunderts belebt und beeinflusst.

Mag sein, dass sich heute nicht mehr mit letzter Sicherheit klären lässt, warum die Sternstraße 1893 diesen Namen erhielt – wohl aber, was die Nazis veranlasste, sie 1935 in Kadettenweg umzubenennen, und das wiederum lässt eindeutige Rückschlüsse zu. Dass diese Aktion einen antisemitischen Hintergrund hatte, gilt seit langem als unstrittig. Die Musikhistorikerin Cordula Heymann-Wentzel stellt in ihrer 2014 veröffentlichten Dissertation an der Universität der Künste fest, dass um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zwei Straßen im heutigen Berlin nach Julius Stern benannt worden seien, eine davon in Lichterfelde. Diese habe, ‚als die Nationalsozialisten alle an Juden erinnernden Straßen umbenannten‘, den noch heute gebräuchlichen Namen Kadettenweg erhalten. Die Autorin schlussfolgert: ‚So wurde gut 50 Jahre nach seinem [Sterns] Tod versucht, den Namen Julius Stern auch aus der Stadtgeschichte zu löschen.‘

Auch bei Wikipedia erfährt man: ‚Die Umbenennung war auch ideologisch begründet, denn Julius Stern war Jude.‘ Dass sich diese Aktion gezielt und systematisch gegen Julius Stern richtete, zeigt sich auch daran, dass die Nazis seinen Namen auch an anderer Stelle ausradierten. So wurde das Stern’sche Konservatorium – ebenfalls 1935 – in ‚Konservatorium der Reichshauptstadt Berlin‘ umbenannt und durch Entlassung der jüdischen Lehrer und Schüler ‚arisiert‘. Die Nazis, so viel lässt sich also sagen, waren sich absolut sicher, wer Namensgeber der Sternstraße war, und das reichte ihnen. Reicht uns dieser Befund heute, um eine Rückbenennung des Kadettenwegs in Sternstraße zu begründen?

‚Nein‘, glaubt man zumindest im Kulturausschuss der Bezirksverordnetenversammlung von Steglitz-Zehlendorf. Fast 90 Jahre nach der Tilgung der Sternstraße aus dem amtlichen Straßenverzeichnis liegt dem Kommunalparlament des Berliner Südwest-Bezirks ein Antrag zur Rückbenennung des Kadettenwegs vor. Doch statt diesen Vorschlag ohne Umschweife in die Tat umzusetzen, begann man mit der Suche nach Wegen und Winkelzügen, die von den Linken beantragte Umbenennung hinauszuzögern, vielleicht sogar zu verhindern. Bedenkenträger zeigten auf einmal einen bemerkenswerten Hang zu historischer Pingeligkeit.

Wo, so die spitzfindige Frage, mit welcher im vergangenen Sommer der Kulturausschuss seine Beratungen vertagte, wo bitteschön ist denn der eindeutige Beleg dafür, dass die Sternstraße tatsächlich nach Julius Stern benannt wurde? Mit anderen Worten: Was, wenn die Sternstraße gar nicht nach dem jüdischen Musiker, sondern nach – ja, wonach eigentlich, vielleicht nach dem gleichnamigen Himmelskörper – benannt wurde? Wäre die Aktion der Nazis dann nicht völlig harmlos gewesen und der Kadettenweg rehabilitiert?

Die fieberhafte Spurensuche in einschlägigen Archiven scheint bisher keine neuen Erkenntnisse erbracht zu haben. Posthumes Pech also für Julius Stern, wenn sich die dummen Nazis womöglich geirrt und die Sternstraße vielleicht aus ‚falschen‘ Gründen umbenannt haben sollten! Kein Beleg, keine Rückbenennung: Fällt eigentlich niemandem unter den Bezirksverordneten im Berliner Südwesten auf, dass sie mit dieser Devise auf dem besten Weg sind, nach fast 90 Jahren einen Willkürakt der Nazis nachträglich zu legitimieren, der es so oder so verdient hat, revidiert zu werden?

Denn es war nicht nur ihr verbrecherischer Hass auf alles Jüdische, der die Nazis dazu trieb, sich an der Sternstraße zu vergreifen, sondern auch ihr Hass auf das ‚Diktat von Versailles‘ und ihre Absicht, mit Hitlers Wehrmacht an die militärischen Traditionen der kaiserlichen Reichswehr nahtlos anzuknüpfen. Die ‚Sternstraße‘ führte vom Bahnhof Lichterfelde-West aus direkt zum Gelände der 1920 (dank Versailles) aufgelösten Königlich-Preußischen Kadettenanstalt, wo sich seit 1934 Hitlers SS-Leibstandarte breit gemacht hatte.

Nicht einmal unter Kaiser Wilhelm, als es die Kadettenanstalt noch gab, waren die ergebensten Untertanen seiner Majestät im Groß-Lichterfelder Gemeinderat auf die Idee gekommen, den Weg der Kadetten vom Bahnhof zu dieser Schulkaserne ‚Kadettenweg‘ zu nennen. Das hielten erst 42 Jahre später die Nazis für nötig. Sie hatten ihre Gründe, aber keine guten – und keine, die heute akzeptabel sein könnten. Alles spricht für eine Rückkehr zur (Julius-)Sternstraße.“

  • Was ist Ihre Meinung? Soll der Kadettenweg umbenannt werden? Schreiben Sie mir an boris.buchholz@tagesspiegel.de.
  • Fotos: privat / Michael Schroeren
  • Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: boris.buchholz@tagesspiegel.de