Nachbarschaft

Veröffentlicht am 30.03.2023 von Boris Buchholz

Was für ein Projekt: 27 Schülerinnen und Schüler der Zehlendorfer Emil-Molt-Schule wollen im Herbst für zwei Monate ihr Klassenzimmer auf das Meer verlegen. Mit der Zwei-Mast-Brigg Roald Amundsen geht es über Ost- und Nordsee auf den Atlantik. Warum ein solches Projekt sinnvoll ist, und wie das Vorhaben finanziert wird, erklärt im Interview Arne Löffler. Der 50-Jährige hat zwei Kinder an der Schule, eines davon besucht die heutige 9. Klasse, die im Oktober in See stechen soll. Zugleich ist der Schlachtenseer, er ist selbst passionierter Segler, Mitglied des Schulvereins und der Organisationsgruppe – Schulleitung, Eltern und Schüler feilen seit dem vergangenen Jahr an der Reise auf dem 50 Meter langen Segelschiff.

Herr Löffler, zwei Monate, 5000 Kilometer, 27 Jugendliche und eine Zweimast-Brigg, die „von Hand“ gesegelt wird: Was können die Schülerinnen und Schüler auf dem Wasser lernen, was sie nicht auch in der Zehlendorfer Claszeile lernen könnten?
Die Schülerinnen und Schüler lernen Kameradschaft, Toleranz und Einsatzbereitschaft. Des Weiteren werden an Bord Teamwork, Selbsteinschätzung, Selbstdisziplin und soziales Verhalten geschult. In der Pandemiezeit sind diese Themen leider aufgrund von zu wenig Präsenz in der Schule viel zu kurz gekommen.

Die Schüler sind beim Ablegen in der zehnten Klasse: Mathematik und Deutsch werden trotz Wellengang gepaukt?
Es werden schwerpunktmäßig die MINT-Fächer, also neben Informatik, Naturwissenschaften und Technik auch Mathe, an Bord gelehrt. Auch Deutsch und Englisch werden unterrichtet. In der Emil-Molt-Schule finden die Prüfungen für den Mittleren Schulabschluss, den MSA, erst in der elften Klasse statt, sodass hier kein Konfliktpotenzial besteht, wenn weniger prüfungsrelevanter Unterricht stattfindet. Ein wichtiges Anliegen der Fahrt ist, dass auch außerschulische Lebensinhalte vermittelt werden.

Zum Beispiel, welche sind das?
Beispielsweise die Segel zu setzen, das Schiff zu steuern, zu navigieren oder Essen für alle zuzubereiten. Das Schiff muss geputzt werden, die Klasse ist auch für den Einkauf der Lebensmittel in den Häfen verantwortlich. Beim „Sailtraining“ wird den Jugendlichen ein Lebens- und Lernraum geboten, in dem Leben, Lernen und Arbeiten aufeinander bezogen sind. In der Folge wächst bei den Jugendlichen das Verantwortungsgefühl, es hilft bei der Charakterbildung. Und durch all das werden sie in einer gestärkten Situation sein, um die Herausforderungen einer komplexen und globalisierten Welt besser annehmen zu können.

Wo geht es wann hin?
Der geplante Zeitraum der Fahrt ist vom 18. Oktober bis zum 15. Dezember 2023. Von Berlin fährt die Klasse mit dem Bus nach Eckernförde. Dort findet erst einmal ein Sicherheitstraining statt. Und dann geht es von Deutschland über die Niederlande, Belgien, Großbritannien, Frankreich, Spanien und Portugal zu den Kanarischen Inseln.

Und warum gerade mit einem so alten Kahn?
Der uralte Rhythmus der Seefahrt ist an Bord erlebbar für jeden, der neugierig genug ist, an Deck zu kommen. Dies unterscheidet diesen „alten Kahn“ von modernen Schiffen. Jede Hand wird gebraucht, nur zusammen kommen wir voran.

Die Jugendlichen sind im Herbst 15 bis 16 Jahre alt. Ist es zumutbar, dass sie zwei Monate lang bei Wind und Wellen in die bis zu 34 Meter hohen Masten der Roald Amundsen klettern müssen?
Die Segelfahrt wird mit einer erfahrenen Crew durchgeführt, die selbstverständlich Gefährdungsanalysen durchführt und keine Schüler:innen unnötigen Gefahren aussetzt. Es gilt „safety first“ an Bord. Das Erklettern von hohen Masten erfolgt ausschließlich unter Anleitung, gesichert und dies auch nur freiwillig. Die Strategie des Kapitäns beinhaltet, die Wetterfenster so zu nutzen, dass Schlechtwetterfronten in sicheren Häfen abgewartet werden. Auch hierfür dient das Zeitfenster von zwei Monaten. Der Verein LebenLernen auf Segelschiffen, er betreibt das Schiff, greift zudem auf langjährige Erfahrung mit Schulklassen auf Segeltörns zurück.

Und die Eltern machen einfach so mit? Gibt es keine Ängste?
Es existieren immer Vorbehalte, Ängste und Fragen, wenn eine große Gruppe eine unbekannte Reise antritt. Wir konnten bei Veranstaltungen mit Vertretern des Vereins und der Schulleitung Fragen stellen und unsere Bedenken äußern. Auch eine anonymisierte Abfrage wurde vorgenommen, um auch den letzten Bedenken zu begegnen.

Die Klasse war schon einmal mit dem Segelschiff auf der Ostsee unterwegs – was waren die Erfahrungen?
Die Schüler waren durchweg begeistert von dem Leben an Bord. Für einige war der Aufenthalt so prägend, dass sie gleich die nächsten Ferien wieder an Bord verbracht haben. Neben dem angeleiteten Segeln standen auch die Zubereitung der Speisen, Knotenkunde, Navigation und die Sauberkeit an Bord auf dem Programm. Tätigkeiten, die zu Hause teilweise nicht so gerne erledigt werden, wurden in diesem anderen Kontext bereitwillig für die Gemeinschaft geleistet.

Da werden manche Eltern bestimmt aufhorchen. Sie sagten, dass es nach der Hochzeit der Coronapandemie wichtig sei, wieder soziale Fähigkeiten zu erlernen.
Die Coronazeit hat uns alle, so auch die Schülerinnen und Schüler, verändert und uns gezeigt, wie wichtig der soziale Zusammenhalt und das gemeinsame Tun auf allen Ebenen sind. Das soziale Lernen ist dabei viel mehr als ein Lernen im Team. Es umfasst das gemeinschaftliche Tun und Erleben, das Durchstehen anstrengender Tage und das Erarbeiten eines gemeinsamen Erfolges. Teamerfahrung steht also absolut im Vordergrund. Dies erlebbar zu machen und damit das Potenzial zur Entwicklung bereitzustellen, den durch die Coronazeit verstärkten Bewegungsmangel und die teilweise Entfremdung von der Schule zu reduzieren, das alles sind Anliegen unseres Projektes.

Das Vorhaben ist nicht billig: 6000 Euro pro teilnehmenden Schüler kostet die Reise. Wie wird das finanziert?
Der Plan zur Finanzierung beinhaltet einen Eigenanteil der Eltern und Spenden sowie Förderungen. Weil wir uns erst Ende 2022 für die Segelfahrt entschieden haben und auch die Schulbehörde noch zustimmen musste, war der Zeitpunkt, um Geld aus öffentlichen Fördertöpfen zu erhalten, leider zu spät. Dementsprechend ist das Projekt auf Spenden nicht öffentlicher Institutionen und private Spenden angewiesen. Ich weiß sehr wohl: 6000 Euro pro Schüler sind sehr viel Geld. Die Dauer der Fahrt ist mit zwei Monaten jedoch auch entsprechend lang. Bezogen auf die Dauer der Fahrt sind dies 100 Euro pro Tag und Schüler. Hiervon entfallen circa 50 Prozent auf Material- und Fahrtkosten. Das ist eben so, wenn die Herberge schwimmt.

Wie stemmen die Eltern die Kosten?
Es wurde vereinbart, dass jedes Elternteil den Beitrag leistet, zu dem es imstande ist. Die fehlende Finanzierung soll kein Grund für einen Schüler sein, nicht mitzufahren. Es gilt: Entweder ist die Finanzierung für die ganze Gemeinschaft gesichert oder die Gemeinschaft fährt nicht auf die Segelfahrt. Das klappt ganz gut: Bisher konnten bereits Eigenanteile und Unterstützungen eingeworben werden. Auch die Schülerinnen und Schüler haben über diverse kleine Verkaufsaktionen Gelder erwirtschaftet. Mit Stand heute existiert leider noch ein Fehlbetrag in Höhe von circa 40.000 Euro.

Warum sollten Externe Geld für eine solch teure Segelreise spenden?
Weil es sich bei diesem Projekt um ein Pilotprojekt für alternatives außerschulisches Lernen handelt, welches eine Vorreiterstellung einnehmen kann. Derzeit werden diverse Studien durchgeführt, die sich mit dem Wandel der Schulen und dem außerschulischen Lernen beschäftigen. Hierfür bedarf es solcher Projekte, eine Unterstützung ist eine Investition in die Zukunft. Wir glauben an die Wirkung dieses Projektes als positiver Vervielfältiger. Selbst die Unesco hat das Sailtraining auf Traditionssegelschiffen in die Liste guter Praxisbeispiele für den Erhalt des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Außerdem: Es gilt, Kinder aus dem eigenen unmittelbaren Umfeld, aus dem eigenen Bezirk oder der eigenen Stadt direkt zu unterstützen.

Gerade hat die Senatsverwaltung Obergrenzen für Klassenfahrten definiert: Selbst bei einem europäischen Schüleraustausch darf die Reise nicht mehr als 1350 Euro pro Person betragen. Die Emil-Molt-Schule ist eine Privatschule, Sie sind daran nicht gebunden.
Es ist wichtig zu erwähnen, dass es sich hierbei nicht um eine Reise mit einem touristischen Zweck oder Ziel handelt, sondern die Fahrt eher einer Studienfahrt gleicht, die mit Bildungs- und Erziehungsarbeit einhergeht. Die Kosten entstehen aufgrund der hohen Materialkosten des Schiffes. Das pädagogische Ziel der Fahrt ist nur über eine Schiffsreise zu erzielen. Ganz wichtig: Der gemeinnützige Verein LebenLernen auf Segelschiffen erwirtschaftet durch diese Segelfahrt keine Gewinne.

Wie viele Lehrer oder Betreuer fahren mit?
Aus der Schule fahren ein Lehrer und eine Begleitperson mit. Hinzukommt die Stammcrew des Schiffes: Das sind 14 Personen, darunter sind zwei weitere Lehrerinnen oder Lehrer. Alle Mitfahrenden tragen jeweils einen Eigenanteil zur Reise bei.

Was glauben Sie, wie wird Ihr Kind von der Reise zurückkehren? Wird dann das Teamplay in der Familie noch besser werden – und der Hausmüll auch mal ohne Ansage weggebracht werden?
Wir glauben, dass die Kinder gestärkt, mit neuen Erfahrungen und einem guten Selbstbewusstsein zurückkehren werden. Dass sämtliche erlernten Fähigkeiten auch zu Hause ausgepackt werden, ist eine Hoffnung. Diese stirbt bekanntlich zuletzt…

  • Mehr Informationen: Für das Projekt hat die Schule eine eigene Website eingerichtet. Auf www.segeln-in-die-zukunft.de gibt es ausführliche Informationen und es besteht die Möglichkeit, das Projekt beim Gelingen zu unterstützen.
  • Fotos: privat, LLaS e.V.
  • Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: boris.buchholz@tagesspiegel.de