Nachbarschaft
Veröffentlicht am 13.04.2023 von Boris Buchholz
In der Theorie ist die Demokratie eine recht einfache Sache: Die Mehrheit entscheidet. Doch in der Praxis ist das demokratische Geschäft etwas komplizierter, weiß Carl-Linus Deichert. Deshalb war der Student der Philosophie, eingeschrieben an der Freien Universität Berlin, begeistert, als er auf die Initiative „Es geht LOS“ stieß – hier verbinde sich Theorie und Praxis. Das aktuelle Projekt der Initiative heißt „Hallo Bundestag“ und vermittelt den Austausch zwischen Bürgerinnen und Bürgern auf der einen und Abgeordneten auf der anderen Seite. Im Interview erklärt der 26-jährige Wahlkreis-Pate für Steglitz-Zehlendorf, was es mit dem Projekt auf sich hat.
Herr Deichert, Mitte März fand der erste Wahlkreistag Steglitz-Zehlendorf statt. Was ist ein Wahlkreistag?
Ein Wahlkreistag ist eine Art Bürgerrat: Über das Melderegister werden Personen aus einem Wahlkreis zufällig ausgelost. Diese Personen kommen dann zusammen, um gemeinsam über ein bundespolitisches Thema zu sprechen und zu beraten. Dieses Mal ging es um das Verhältnis von Menschen im Wahlkreis und Bundespolitik. Das Ziel eines Wahlkreistags ist, Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu geben, miteinander zu diskutieren und mit ihren gewählten Bundestagsabgeordneten ins Gespräch zu kommen.
Wer waren die 25 Teilnehmenden? Nur Steglitz-Zehlendorfer Bildungsbürger?
Nein, natürlich nicht! Das Losverfahren bestimmt, welche Personen für eine Teilnahme am Wahlkreistag ausgewählt werden. Das Los ist neutral: Im Prinzip können also alle Personen ausgelost werden, die im Wahlkreis wohnen. Es geht darum, dass der Wahlkreis möglichst repräsentativ vertreten ist. Ihre Frage führt aber zu einem wichtigen Punkt: Oft ist es so, dass sich nur bestimmte Leute auf die Einladungen zurückmelden. Meist sind es Personen, die sich vielleicht schon mal in der Politik engagiert haben oder die Ressourcen dazu haben.
Wie sorgen Sie dafür, dass auch Menschen mit einem anderen Hintergrund mitmachen?
Wir klingeln an der Tür der Eingeladenden. Mit diesem „Aufsuchenden Losverfahren“, das wir genau aus diesem Grund entwickelt haben, wollen wir diejenigen erreichen, die sonst vielleicht nicht so viel mit Politik am Hut haben. Man sieht also: Losen ist nicht gleich Losen!
Trotzdem kann die Teilnahme an einem Bürgerrat recht komplex und eine Hürde sein…
Das stimmt, deshalb versuchen wir, institutionelle Hürden für die Teilnahme am Wahlkreistag gering zu halten. Wir übersetzen zum Beispiel die Anschreiben oder übernehmen bei besonderem Bedarf auch Kosten für die Teilnahme. Wir bemühen uns, dass jede ausgeloste Person auch am Wahlkreistag teilnehmen kann. Ich selbst habe für den Wahlkreistag an circa 25 Türen geklingelt und viele spannende Gespräche geführt. Das wird oft als wertschätzend wahrgenommen, weil sich jemand die Mühe macht, zu fragen, was die Person braucht, um teilzunehmen. Natürlich bleibt die Teilnahme freiwillig. Aber häufig bringen gerade diejenigen, die erst durch das Gespräch an der Haustür zugesagt haben, beim Wahlkreistag neue Perspektiven und Gedanken ein, die sonst eben nicht zur Sprache kämen.
War es auch in Steglitz-Zehlendorf so?
Ja, es waren Personen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und Perspektiven unter den Teilnehmenden. Was mich bei dem Wahlkreistag aber besonders gefreut hat: Es haben acht Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren teilgenommen, die sehr aktiv in der Diskussion waren. Das ist schon besonders.
Warum hat es die Politik überhaupt nötig, solche neuen Formate zu erfinden?
Das Format ist ja nicht aus der Politik, sondern aus der Zivilgesellschaft entstanden. Die Initiative „Es geht los“ will die Beziehung von Bevölkerung und Politik stärken, indem wir die Möglichkeit und den Rahmen für einen Austausch schaffen. Denn das ist es, was aktuell fehlt und dazu führt, dass viele Menschen eine Politikverdrossenheit empfinden. Sie nehmen eine Distanz zwischen dem eigenen Leben und der Ebene politischer Entscheidungen wahr. Der Wahlkreistag möchte genau das ändern! Für die Menschen im Wahlkreis bedeutet das, dass sie auf einer anderen Ebene als bisher Teil des politischen Prozesses werden. Und für die Politik kann der Wahlkreistag wertvolle Erkenntnisse dafür liefern, wie sie die Menschen im Wahlkreis besser erreichen und einbinden kann. Das kann gegenseitiges Vertrauen stiften und die repräsentative Demokratie stärken.
Was war für Sie eine neue Erkenntnis an diesem Wahlkreistag?
Es ist nicht so, dass die Menschen keine Lust auf Politik haben oder uninteressiert sind. Im Gegenteil, sie wollen sich einbringen. Dafür braucht es aber entsprechende Einladungen und Strukturen, sie müssen ernst genommen werden. Es war jetzt der erste von 18 Wahlkreistagen im Gesamtprojekt „Hallo Bundestag“. Ein wichtiger Projektbestandteil ist es, das Engagement aus den einzelnen Wahlkreistagen in einem sogenannten Wahlkreisrat zu verstetigen. Von den 25 Teilnehmenden aus Steglitz-Zehlendorf haben sich 18 gemeldet, um weiter dabei zu bleiben.
Ist das Ganze nicht eher eine Alibi-Veranstaltung? Die Bürger erleben nette und zugewandte Politiker, doch wirklichen Einfluss gewinnen Sie ja dadurch noch nicht…
Da widerspreche ich. Eins ist wichtig: Bürgerräte sollen nicht die repräsentative Demokratie ersetzen, sondern sie stärken. Und so hat auch der Wahlkreistag und vor allem später der Wahlkreisrat eine Beratungsfunktion. Er soll keine Entscheidungen treffen und kann das auch gar nicht. Das macht Wahlkreistag und Wahlkreisrat aber nicht zu Alibi-Veranstaltungen: Sie können der Politik helfen, bessere Entscheidungen zu treffen, indem sie ein möglichst breites Spektrum der Perspektiven aus dem Wahlkreis vermittelt bekommt. Nach den Pilotprojekten 2021 haben wir gemerkt, dass so ein einzelner Tag nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch für die Abgeordneten einen enormen Mehrwert hat, den sie mit in ihre Arbeit nehmen. Es gibt in unserer Gesellschaft wenige Räume, die so einen wertschätzenden Umgang möglich machen. Dabei sind die Teilnehmenden durchaus kritisch und achten natürlich genau darauf: Werden diese Perspektiven ernst genommen und in politisches Handeln übersetzt. Das ist schon ein wichtiger Einfluss der Bürger, schließlich entscheiden sie, ob die Abgeordneten wieder gewählt werden oder nicht.
Was haben die Teilnehmenden gesagt, was haben sie gewonnen?
Es gab viel gutes Feedback zum Format selbst. Die Leute haben es als bereichernd wahrgenommen, sich mit Menschen aus ihrer Umgebung auszutauschen, mit denen sie sonst nie im Leben gesprochen hätten. Eine ältere Teilnehmerin fand es super, dass auch viele jüngere Menschen da waren, die nochmal ganz andere Blickwinkel eingebracht haben. Ein Teilnehmer, der am Anfang sehr skeptisch war, kam nach der Veranstaltung als erster zu mir, um sich für den Wahlkreisrat anzumelden. Ich glaube, insgesamt haben die Menschen die Erfahrung gewonnen, dass sich politische Themen konstruktiv und wertschätzend untereinander und mit den Abgeordneten diskutieren lassen. Und es bleibt eben nicht bei einem Tag – es geht weiter!
Mit dabei waren Thomas Heilmann von der CDU und Ruppert Stüwe von der SPD; die Abgeordnete Nina Stahr von den Grünen konnte terminlich nicht. Haben sich Herr Heilmann und Herr Stüwe zu irgendetwas verpflichtet?
Sie haben sich verpflichtet, das Format des Wahlkreistags und des Wahlkreisrats ernst zu nehmen. Das heißt, nicht nur die drei Wahlkreistage mitzumachen, sondern auch zwischen den Veranstaltungen ins Gespräch mit dem Wahlkreisrat zu gehen und die vielfältigen Stimmen öfter in ihre politische Arbeit einzubeziehen. Je stärker dieses Format ist, desto schwieriger wird es für Politikerinnen und Politiker zu erklären, warum sie es nicht nutzen, um ein Stimmungsbild zu verschiedenen Themen aus ihrem Wahlkreis einzuholen. Da gehört genauso zu, Entscheidungen und Entscheidungswege transparent zu machen.
Da es ja ein Wahlkreistag war, hoffe ich, dass auch die anderen Menschen im Wahlkreis 79 etwas davon haben. Was?
Unser Ziel ist es, den demokratischen Prozess zu stärken. Wenn der Wahlkreistag als erster Schritt dazu beiträgt, haben alle etwas gewonnen. Insgesamt werden im Wahlkreis 79 noch zwei weitere Wahlkreistage stattfinden, einer im Herbst und ein dritter im nächsten Frühjahr. Das gibt uns die Möglichkeit, den Prozess jedes Mal an die gemachten Erfahrungen anzupassen. Und der geloste Wahlkreistag soll ja auch eine gewisse Repräsentation der Menschen im Wahlkreis abbilden, bietet also die Chance mehr Perspektiven sichtbar zu machen.
Was ist Ihre Vision?
Die Wahlkreistage finden als Pilotprojekt in sechs verschiedenen Wahlkreisen in Deutschland statt. Aus dem Pilotprojekt wollen wir konkrete Vorschläge ableiten, wie Wahlkreistage und Wahlkreisräte in jedem Wahlkreis in Deutschland stattfinden können. Deshalb lassen wir das gesamte Projekt auch extern evaluieren.
In dem Projektbericht zum Wahlkreistag stehen Aussagen wie, „dass die Presse oft nur über zugespitzte Aussagen berichtet“ oder wichtige Punkte „in den Medien jedoch oft nicht erwähnt“ würden. Machen es sich die beiden Politiker nicht allzu leicht, die Verantwortung für „Kommunikationsdefizite“ oder „Missverständnisse“ bei der Presse zu suchen?
Das Thema haben ja nicht wir oder die Abgeordneten aufgebracht, sondern die Teilnehmenden. Und die Diskussion hierzu war weitaus kritischer, als diese beiden Aussagen vermuten lassen. Aus meiner Sicht geht es beim Wahlkreistag um genau diesen Austausch von Politik und Bürgerschaft: Wie ist die Situation des jeweils anderen? Was muss ich eigentlich noch wissen, um die Position tatsächlich zu verstehen? Und das gilt in beide Richtungen. Wenn es die Menschen beschäftigt, dass der politische Diskurs oft von Zuspitzung und Polemik bestimmt ist, dann geht es vor allem um die Frage: Wie kann man das denn eigentlich anders hinbekommen? Wäre eigentlich auch ein spannendes Thema für einen eigenen Wahlkreistag.
Die Wahlkreistage sind Bundespolitik. Wie sähe denn aus Ihrer Sicht eine funktionierende Bürgerbeteiligung auf der Bezirksebene aus?
Zum einen durch den Wahlkreisrat: Wenn sich das dort das Engagement der Menschen verstetigt und vielleicht auch verselbstständigt, wäre das ein wirklich großer Erfolg. Zum anderen hoffen wir darauf, dass das Projekt „Hallo Bundestag“ Menschen auch über den Wahlkreistag und -rat hinaus dazu motiviert, sich in ihrer Umgebung zu engagieren, eben für die Dinge, die ihnen wichtig sind. Funktionierende Bürgerbeteiligung wäre dann gegeben, wenn Politik sich für dieses Engagement öffnet und Bürgerbeteiligung nicht als lästig oder noch schlimmer als Konkurrenz zur eigenen Arbeit sieht, sondern sie als Gewinn begreift – egal ob auf Bezirks-, Landes- oder Bundesebene.
Könnten Sie sich vorstellen, auch auf der lokalen Ebene Projekte zu realisieren?
Ja klar, die lokale Ebene mitgestalten zu können, ist super wichtig, sie ist nun mal die direkte Umgebung der Menschen. Wir haben vor unserem aktuellen Projekt viele kommunale Beteiligungsprojekte durchgeführt. Da ging es zum Beispiel um das Leitbild zweier Kommunen, den Bürgerservice oder einen gelosten Jugendrat. Aber wir verstehen uns langfristig nicht als Durchführungsorganisation von möglichst vielen Beteiligungsverfahren. Wir erproben sie in verschiedenen Bereichen und stellen die Erfahrungen, die dabei entstehen, open source in unserem Materialbaukasten zur Verfügung. Dahinter steht der Gedanke: Nur wenn Bürgerbeteiligung in die Fläche kommt, hat sie tatsächlich eine Wirkung auf die Demokratie als Ganzes. Alle Menschen sollten die Möglichkeit haben, sich zu beteiligen.
Das Projekt „Hallo Bundestag“ bedeutet viel Arbeit. Wie schaffen Sie es neben dem Studium, daran mitzuwirken?
Zwar ist „Es geht los“ viele Jahre aus dem Ehrenamt gewachsen, inzwischen sind aber nur noch Teile meiner Arbeit ehrenamtlich. Für „Hallo Bundestag“ konnten wir acht Projektstellen finanzieren, zum Beispiel um unsere Arbeit im Wahlkreis Steglitz-Zehlendorf zu organisieren. Als ich vor gut einem Jahr hier angefangen habe, wäre das nicht denkbar gewesen. Bürgerbeteiligung wird also inzwischen anders wahrgenommen, es schauen plötzlich viele Menschen auf das, was wir tun, und merken: So etwas braucht es, das hat Potenzial. Mich treibt es an, dieses Potenzial durch unser Projekt zu nutzen und einen wirklich nachhaltigen Beitrag zur Stärkung unserer Demokratie zu leisten.
- Fotos: privat / Hallo Bundestag
- Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: boris.buchholz@tagesspiegel.de