Nachbarschaft

Veröffentlicht am 19.10.2023 von Boris Buchholz

Es sei nicht weniger als „eine Reparatur unserer kaputten Stadt“, die auch mitten in einem Lankwitzer Gewerbegebiet in der Haynauer Straße 67a stattfinden soll, sagt Frieder Rock (oben auf dem Foto mit Monika Gronwald und Jule Kürschner). Er ist der Gründer und Prokurist der Genossenschaft „Eine für Alle“ – und mit der Genossenschaft kurz davor, die alte Klavierfabrik der Firma May für 2,5 Millionen Euro zu kaufen. Rund zehn Handwerksbetriebe mit etwa 80 Beschäftigten, darunter viele Auszubildende, wollen in die etwa 3000 Quadratmeter große Ex-Fabrik ziehen. Statt Klaviere werden künftig Küchen, Fenster und Möbel geschreinert, individuelle Grabsteine entstehen, eine Stickerei und eine Bronzegießerei, ein Messebauer und Gartenbauspezialisten wollen möglichst bald in der Haynauer Straße arbeiten und produzieren. In der ehemaligen Klavierfabrik soll ein genossenschaftlich betriebener Handwerkshof entstehen.

Bereits eingezogen ist die Tischleria, eine Küchen- und Möbelmanufaktur für „körpergerechtes Wohnen“, so die Selbstdarstellung. Zwei Meisterinnen, vier Gesellinnen und zwei Auszubildende sind in dem Frauenbetrieb beschäftigt. Die Tischleria sei es gewesen, die den Prozess um den Lankwitzer Handwerkerhof ins Rollen gebracht habe, erzählt Meisterin Jule Kürschner am Küchentisch des Betriebs. Vergangenes Jahr sei ihnen für ihre alten Werkstatträume in der Tempelhofer Eresburgstraße die Kündigung auf die Werkbank geflattert; im Frühjahr 2023 mussten sie ausziehen.

„Wir haben dann angefangen, nach neuen Räumen zu suchen“, sagt die Handwerkerin – ohne Erfolg. Sie hatten zuvor sieben Euro pro Quadratmeter bezahlt, „wir suchten nach allem, was unter zehn Euro kostete“. 350 Quadratmeter Platz benötigte der Betrieb. Was sie fanden, seien Kellerräume ohne Fenster, unattraktive Standorte in schlechtem Zustand und verkehrlich abgeschiedene Lagen gewesen. Auch die angebotene Mietdauer war ein Problem: „Die hatten meist Laufzeiten von zwei Jahren, mit Glück auch mal fünf Jahre.“ Dann hätten mehr Miete oder ein weiterer Umzug angestanden. „Wenn du mit einer Tischlerei umziehst, hast du ein richtiges Problem“, sagt sie. Um die 50.000 Euro koste die Tischleria jeder Standortwechsel.

Monika Gronwald, sie betreibt als Spielbein neben ihrem angestellten Job ebenfalls eine kleine Tischlerei, bestätigt das Problem: „Ich bin in den vergangenen 25 Jahren siebenmal umgezogen.“ Als sie das letzte Mal nach einer neuen Bleibe suchte, „fand ich nur inakzeptable Mieten von 18 bis 20 Euro pro Quadratmeter kalt und einen Mietvertrag über vier Jahre“. Und dann käme garantiert eine Erhöhung.

„Eigentlich gibt es in Berlin keine bezahlbaren Flächen für kreatives Handwerk mehr“, ist Jule Kürschners nüchternes Fazit. Seitdem die Stadt vor 16 Jahren die landeseigene GSG, kurz für Gewerbesiedlungs-Gesellschaft, verkauft habe, seien die Gewerbehöfe innerhalb des S-Bahnrings zu Bürohöfen umgewandelt worden, ergänzt Frieder Rock. Die Umwandlung sei für die neuen Besitzer lukrativer gewesen; früher habe es Gewerbehöfe der GSG „an jeder Ecke“ gegeben. Die Folge: Handwerksbetriebe wurden verdrängt.

So entstand in der Tischleria-Crew die Idee, nicht mehr zu mieten, sondern zusammen mit anderen Betrieben eine Immobilie zu kaufen und dort dauerhaft zu bleiben. Die Handwerkerinnen wandten sich an die Genossenschaft „Eine für Alle“ – und begeisterten etwa zehn weitere Betriebe für die Idee des Handwerkerhofs. Als dann die alte Klavierfabrik in Lankwitz zum Verkauf stand, wurde das Projekt konkret. „Wir kalkulieren gerade mit sieben bis acht Euro nettokalt“, sagt Frieder Rock.

Die größte Hürde sind aktuell der Kaufpreis und die Umbaukosten. Der Besitzer, das Entsorgungsunternehmen Alba, will 2,5 Millionen Euro für das Gebäude haben. Genossenschaftler Frieder Rock rechnet grob mit einer weiteren Million Euro Umbaukosten – zuletzt genutzt worden ist das Haus als Labor. Für die Handwerksbetriebe müssen Leitungen zurückgebaut, abgehängte Decken entfernt, Wände versetzt und neue Rolltore geschaffen werden. Jeder der Handwerksbetriebe, die in die Haynauer Straße einziehen, beteiligt sich pro genutztem Quadratmeter mit einem Genossenschaftsanteil von 250 Euro. So kommen 750.000 Euro zusammen. Weitere 500.000 Euro sollen „investierende Mitglieder“ beisteuern – die noch gefunden werden müssen. Die restlichen 2,25 Millionen Euro würden über einen Kredit finanziert. Der Kaufvertrag mit Alba ist schon unterschrieben; der Kaufpreis in Höhe von 2,5 Millionen Euro ist Mitte Dezember fällig. Bis dahin muss die Finanzierung stehen.

Frieder Rock ist zuversichtlich, dass ausreichend „investierende Mitglieder“ für das neue Projekt gefunden würden. Jeder Euro mehr reduziert die Kreditlast und letzten Endes die Miete für die Handwerksbetriebe. Die Genossenschaft habe bei mehreren anderen Projekten – unter anderem nimmt gerade ein neu zu bauendes Künstlerhaus an der Osdorfer Straße Fahrt auf – mit diesem Finanzierungskonzept gute Erfahrung gemacht. Allerdings sei die Investition keine Geldanlage, die Genossenschaftsanteile werden nicht verzinst. „Die Leute machen das, weil sie das Projekt und die Betriebe gut finden“, sagt der Gründer der Genossenschaft.

Geht alles nach Plan, ist die Eine für Alle e.G. ab Mitte Dezember Besitzerin der Liegenschaft. Der Rückbau des Gebäudes soll im selben Monat beginnen, im ersten Halbjahr 2024 ist der Umbau geplant. In der zweiten Jahreshälfte sollen dann alle Handwerksbetriebe eingezogen sein – von der Stickerei bis zu Bronzegießerei. Ab 2025 wird die Freifläche entwickelt und die energetische Ertüchtigung das Hauses erfolgen, so der Plan. Sollte die Statik mitspielen, träumt Frieder Rock von „einem extensiven Grasdach mit einer Photovoltaikanlage obendrauf“.

Pläne haben die zehn Betriebe viele. Ein Ausbildungsverbund könnte entstehen, eine Wohnung für wandernde Gesellinnen und Gesellen eingerichtet werden. Auch eine gemeinsame Fahrzeugflotte ist denkbar – „vom Lastenfahrrad bis zum Lastkraftwagen“, so steht es im Entwicklungskonzept. Ebenso sind gemeinsame Präsentations- und Ausstellungsflächen angedacht – zur Haynauer Straße gibt es einen repräsentativen Raum mit großen Glasflächen, er scheint für eine Leistungs- und Produktschau wie gemacht zu sein. Und noch einen Traum gibt es: Zur Arbeit mit der S-Bahn zu kommen und an der nahen, noch zu bauenden Station Kamenzer Damm aus dem Zug zu steigen.

Die Handwerkerinnen und Handwerker sind gekommen, um zu bleiben. Mindestens 39 Jahre. So lange läuft der Erbbaupachtvertrag für das Grundstück Haynauer Straße 67a mit der Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM) noch.