Nachbarschaft

Veröffentlicht am 20.06.2024 von Boris Buchholz

Wechsel hinter dem Kino-Projektor – Andreas Neun betreibt ab dem 1. Juli das Zehlendorfer Bali-Kino. Am gestrigen Mittwoch war er auf dem Hof hinter dem Kino anzutreffen; zwei Bauarbeiter sind dort damit beschäftigt, den Boden aufzubuddeln und eine neue Abwasserleitung zu legen. Es ist das erste Projekt des neuen Kino-Betreibers  – das renommierte Lichtspielhaus bekommt nach vielen Jahrzehnten eine eigene Toilette! Was der 54-Jährige noch vorhat, wie der ehemalige Rechtsanwalt zum Kino kam und wie die bisherige Betreiberin Helgard Gammert (80) ihre letzten Tag im eigenen Kino feiert.

Herr Neun, Sie waren viele Jahre als Wirtschaftsanwalt tätig. Warum wollen Sie jetzt ein Kino besitzen?
Andreas Neun: Es ist das, was ich immer machen wollte – ein Kino betreiben. Schon als Kind und Jugendlicher in Kyritz habe ich meine Freizeit im Kino verbracht. Für mich war jetzt die Zeit gekommen, diesen Kindheitstraum zu verwirklichen. Ich wohne in Lichterfelde, das Bali ist mein Kiezkino. Ich habe Helgard aufgrund eines Berichts über sie 2019 im Tagesspiegel angesprochen. Der Text endete mit: „Ewig wird sie das Bali-Kino nicht mehr leiten.“ Und sie hoffte, dass sie einige Menschen mit ihrer Filmauswahl berührt habe und unter ihnen auch ein Nachfolger sein könnte. Und da habe ich sie angeschrieben.
Helgard Gammert: Ich habe seine Anfrage gleich gelöscht.
Andreas Neun: … und wir kamen – etwas später – trotzdem ins Gespräch.

Abgedeckt unter Bettzeug: Im Vorführraum stehen noch zwei 35-mm-Projektoren – sie brauchen allerdings einen Ölwechsel.

Ihre Augen leuchten, Sie scheinen das Bali zu lieben …
Andreas Neun: Aus tausend Gründen. Es ist nicht nur das Kino meiner Nachbarschaft, ich mag die große Leinwand, die Qualität von Ton und Bild. Der Abstand zwischen Leinwand und Reihe eins ist großartig. Hier kann man alles Mögliche machen, mit dieser Tanzfläche, mit der Bühne und dem Flügel. Und mit den beiden 35-mm-Projektoren, die im Vorführraum noch erhalten sind und nur reanimiert werden müssten.

Frau Gammert, Sie sind das Bali, warum hören Sie auf?
Helgard Gammert: Ich habe mir gesagt, mit 80 Jahren ist einfach Schluss. Und ich habe mit Andreas Neun jemanden gefunden, dem ich es zutraue, das Bali in eine gute Zukunft zu führen…

Das Bali steht in der Tradition, ein Ort des Kinderfilms und des politischen Kinos zu sein. Wird es so weitergehen?
Andreas Neun: Das ist der Ehrgeiz und das wird der Versuch sein. Erhaltenswertes fortführen und zugleich behutsam neue Impulse geben.

Zum Beispiel?
Andreas Neun: Da soll sich das Publikum ruhig überraschen lassen. Ich werde sicherlich auch Dinge ausprobieren und dabei sehen, was gut funktioniert und was nicht. Was ich so nicht erwartet hatte, ist, wie lokal das Publikum ist: 90 Prozent, schätzen wir, kommen tatsächlich aus der näheren Umgebung. Die Frage lautet: Was zieht den typischen Zehlendorfer ins Kino?

Und wie lautet die Antwort?
Andreas Neun: Eine Antwort hat Helgard mit ihrer ganz eigenen, unverwechselbaren Handschrift, die mir immer sehr imponiert hat, schon gefunden. Das Bali zeigt Filme, die sich mit der Frage befassen, wie wir als Menschen miteinander in Zukunft leben wollen. Und welchen Gefahren wir dabei ausgesetzt sind. Literaturverfilmungen laufen hier erfahrungsgemäß auch sehr gut. Filme über Musik, Tanz, auch darauf will ich aufbauen. Häufig laufen Architekturdokus im Bali, die werden in keinem anderen Berliner Kino gezeigt – und sind gut besucht. Ein Anliegen ist mir auch die Bali-Reihe „Kino der Nachbarn“ mit Osteuropafilmen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie wenig wir in Berlin aus der Nähe zu Polen, Tschechien und Osteuropa insgesamt machen.

Wann ist denn Ihr letzter Tag, Frau Gammert?
Helgard Gammert: Der Countdown läuft, es sind noch zehn Tage. Am 30. Juni ist für mich Schluss.

Gibt es eine Abschiedsfeier?
Helgard Gammert: Das will ich nicht, ich will einfach mit einem lachenden Gesicht hier rausgehen und nicht gramgebeugt. Dieser Tag ist von mittags bis abends dem Kino gewidmet, mit Filmen, die ich sehr liebe. Es wird auch freier Eintritt sein; ich möchte an diesem Tag nicht an der Kasse stehen und dann hinterher das Geld zählen. Am Sonntag, 30. Juni, zeige ich um 16 Uhr „Belle & Sebastian“, um 18 Uhr „Eine Sekunde“. Und um 20 Uhr schenkt mir die Leo-Borchard-Musikschule ein Abschiedskonzert mit ihrer Bigband! Die ist vor zwei Monaten hier aufgetreten und hat unheimlich Krach gemacht, es war toll und lebendig und hatte die Botschaft „Boah, es geht weiter!“ in sich. Genau das will ich. Die Tür des Bali steht offen, alle die wollen, können kommen.

Ab Juli ist es Ihr Kino, Herr Neun. Wie geht es dann weiter?
Andreas Neun: Das Bali bleibt bis Anfang Oktober geschlossen. Der Hauptgrund ist der Einbau einer behindertengerechten Toilette. Die Hoffnung ist, zum Oktoberbeginn wieder mit dem Spielbetrieb zu beginnen. Am Antlitz des Bali wird sich nichts ändern, weder an den Leuchtbuchstaben, noch an den Schaukästen, auch die Wand mit den alten Filmplakaten im Saal bleibt natürlich. Es wird einen hohen Wiedererkennungswert geben, und den ein oder anderen neuen Akzent. Zur Kontinuität gehört übrigens auch, dass die tollen Mitarbeiter des Bali größtenteils weitermachen. Darüber bin ich sehr froh, denn der Kinobetrieb funktioniert nur im Team.

Im Hof: Andreas Neun vor der Baustelle für den Toilettenanbau.

Beim Blick in die Zukunft fällt mir das Jahr 2026 ein, dann beginnt der Umbau des S-Bahnhofs Zehlendorf – dann haben Sie vier Jahre lang eine riesige Baustelle direkt vor der Kino-Tür.
Andreas Neun: Darüber mache ich mir tatsächlich intensiv Gedanken, ich versuche das konstruktiv anzugehen. Ich befürchte Lärm und Erschütterungen sowohl durch die Baustelle selbst als auch durch den Baustellenverkehr. Der soll nach den bisherigen Plänen zumindest in bestimmten Bauabschnitten über die Gartenstraße geführt werden, die ich für ungeeignet halte. Ich habe – wie viele andere auch – im laufenden Planfeststellungsverfahren meine Bedenken geltend gemacht und hoffe, dass es am Ende des Tages eine verträgliche, allseits interessengerechte Lösung geben wird.

Was wäre die Mindestforderung?
Andreas Neun: Wir müssen die 18- und die 20.30-Uhr-Vorstellung durchführen können. Sicher ist: Das Bali wird diese Bauarbeiten definitiv überstehen. Ich hätte für die Gartenstraße auch noch andere Anregungen.

Die alte Besitzerin und ihr Nachfolger: Vor dem Kino fehlt ein Treffpunkt für das Publikum.

Welche denn?
Andreas Neun: Ich würde zum Beispiel gerne Tische und Stühle auf den Gehweg stellen. Dann könnten sich die Kinogäste bei gutem Wetter auch vor und nach dem Film treffen. Das Kino als Platz für Begegnungen.
Helgard Gammert: Das wünschen sich die Kinobesucher schon lange.
Andreas Neun: Wie mehr Platz auf dem Bürgersteig entstehen könnte, muss man sehen.

In welchen Dimensionen investieren Sie in das Bali?
Andreas Neun: Das soll schon ein sechsstelliger Betrag sein, aber es gibt natürlich auch flankierende Förderanträge, die hoffentlich positiv beschieden werden.

Das Bali war ja auch schon Berlinale Kiezkino.
Helgard Gammert: Das fand nur einmal statt, weil keine Toilette da war.
Andreas Neun: Nach dem Umbau spricht eine Menge dafür, dass das Bali sich wieder bewirbt.

Das werden die Neuen Kammerspiele in Kleinmachnow, die aktuell bei den Filmfestspielen dabei sind, nicht gut finden.
Andreas Neun: Das weiß ich nicht. Verglichen mit anderen Berliner Kiezen ist genug Platz für das Bali, das Capitol Dahlem und die Kleinmachnower Kammerspiele.

Frau Gammert, und wie sieht Ihre Zukunft aus?
Helgard Gammert: Ganz klar ausgedrückt: Ich werde nicht in den Ruhestand gehen. Das würde überhaupt nicht zu mir passen. Ich habe so einige Sachen im Kopf und ich werde bestimmt im Kulturbetrieb bleiben. Aber ab 1. Juli habe ich erst einmal Zeit. Übrigens gab es noch ein Abschiedsgeschenk: Das Medienboard Berlin-Brandenburg verlieh vor einer Woche dem Bali den Kinoprogrammpreis 2024; er ist mit 40.000 Euro dotiert.