Nachbarschaft

Veröffentlicht am 25.07.2024 von Boris Buchholz

Mit Oksana Kovalenko-Grimm ein Interview zu führen, ist eine mühselige Angelegenheit: Ständig kommen neue Kundinnen und Kunden in ihren kleinen, 40 Quadratmeter großen Buchladen in der Kaiser-Wilhelm-Straße 1 – und dass sie die meisten von ihnen beim Namen kennt, hilft dem Interviewfluss auch nur bedingt. Allerdings zeigt es: Die Lankwitzer Kiezbuchhandlung funktioniert, sie wird angenommen. Vor zehn Jahren hat die 59-jährige gebürtige Ukrainerin die Buchhandlung Friebe übernommen. Horst Friebe hatte sie etwa 1946 gegründet, später übernahm seine Tochter Eleanore das Geschäft. Wieder öffnet sich die Tür, eine ältere Kundin, schulterlanges Jahr, sportliches Aussehen, eilt schnellen Schrittes in den Laden: „Mein Mann parkt in der zweiten Reihe, ich brauche schnell einen Krimi.“ Sofort leistet Oksana Kovalenko-Grimm literarische Nothilfe – und der Reporter nimmt den nächsten Schluck Kaffee.

Frau Grimm, warum sollte man nach frischer Lektüre bei Ihnen suchen, was macht Ihre Buchhandlung anders?
Wir sind spezialisiert auf unabhängige Verlage, das ist das A und O. Die zweite Besonderheit: 90 Prozent der Bücher, die Sie hier sehen, wurden von mir oder meinen Testleserinnen und -lesern gelesen. Jedes einzelne Buch ist von uns bewusst ausgesucht worden.

Bestseller-Titel finde ich bei Ihnen auch?
Natürlich haben wir auch die allgemein bekannten Titel. Aber ich mache den Einkauf nicht nach dem Motto, jetzt steht es auf der Bestsellerliste, also kaufe ich das ein. So machen das die großen Ketten, hier bei mir funktioniert dieses Prinzip nicht. Und die Kunden wissen das. Sie können sich darauf verlassen, dass ich und mein Team wissen und kennen, was wir verkaufen. Die Menschen kommen wegen der Beratung und wegen der Bücher, die so nicht in jeder Buchhandlung zu finden sind.

Das neue Buch des Zehlendorfers Sebastian Fitzek …
Das kriegen Sie bei mir, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin allen Autoren dankbar, die regelmäßig auf der Bestsellerliste stehen. Denn für viele Menschen ist die Bestsellerliste nichts anderes als eine Einkaufsliste. Sie ist kein Qualitätsmerkmal, aber durch sie bekommt das Buch Popularität. Wer bei mir einen Bestseller kauft, ermöglicht mir den finanziellen Spielraum für die unabhängigen Verlage. Hierher kommt man vor allem, wenn man etwas Besonderes sucht.

Das ist Ihre Nische.
Das ist auch meine Überlebensstrategie, sonst könnte ich gegen die großen Ketten nicht bestehen.

Sie scheinen zu vielen Ihrer Kunden eine enge Verbindung zu haben – wie kommt das?
Das war von Anfang an so: Es ist der Laden selbst, seine Atmosphäre, die die Nähe erzeugt. Er ist klein, urig und beim Kaffee und Kuchen zwischen all den vielen Büchern kommt man automatisch ins Gespräch. Dazu kommen die zahlreichen Veranstaltungen, bei denen man sich, beispielsweise bei einem Glas Wein, näher kennenlernt.

Einen Namen im Bezirk machten Sie sich mit einer Hilfsaktion für die Ukraine. Was war da los?
Im April 2022 sammelten wir Spenden, um für die nach Berlin geflüchteten Familien ukrainische Kinderbücher zu besorgen. Es gab es einen unglaublichen Zuspruch aus der Nachbarschaft. Die Leute haben gespendet, mitgeholfen, unterstützt. Dieses Engagement war unglaublich und kein Einzelfall: Als mein Mann letztes Jahr krank wurde – er arbeitet auch im Laden, alle kennen ihn – sprangen die Kunden ein und halfen im Geschäft aus. Es war Dezember, das Geschäft brummte, ich kam kaum hinterher: Der eine wusch ab, der andere schlug Bücher in Geschenkpapier ein. Eine hatte sich sogar extra Urlaub genommen, um helfen zu können. Dieser Rückhalt ist enorm wichtig.

Das ist ungewöhnlich. Wie haben Sie sich gegenseitig so gut kennen- und leiden gelernt?
Vor Corona haben wir zum Beispiel einmal im Jahr Reisen zu besonderen Bibliotheken organisiert: Viele unserer Kunden kamen mit. Wir waren in Weimar, wir waren in Prag, in Görlitz. Literarische Drei-Tage-Reisen, jedes Mal reisten so 14, 15 meiner Kunden mit. Da lernt man sich kennen. Wir gehen auch zusammen ins Museum oder ins Theater. Denn es gibt zu jedem Thema ein Buch. Wenn wir die Vorstellung von „Prima Facie“ im Deutschen Theater besuchen, dann lesen wir auch das passende Buch, hier ist es [sie zeigt auf das gleichnamige Werk von Suzie Miller]. Wir erleben einiges zusammen, wir tauschen uns aus. Dadurch ist es im Laden familiär.

Sie haben auch das Bilderbuchfest auf dem Kranoldplatz ausgerichtet?
Ja, es fand im Ferdinandmarkt unter der Glaskuppel statt. Zum letzten Mal konnten wird das Bücherfest vor fünf Jahren feiern, dann wurde der Ferdinandmarkt geschlossen. Auch da war die Hilfe groß: 28 meiner Kunden halfen als Freiwillige mit. Es war großartig.

Sie haben nicht nur Bücher im Angebot, sondern auch Kuchen…  Den backen mein Mann, mein Sohn und meine Kollegin, je nachdem, wer gerade Zeit hat. Wir backen immer selbst, zu 99,9 Prozent stammt die Rezepte aus einem der Backbücher, die wir im Sortiment haben.

Ihre Buchhandlung ist auch ein Café. Welchen Kuchen haben Sie heute im Angebot?
Pflaumenschmand- und Tiramisu-Torte. Jedes Stück kostet seit zehn Jahren 2,50 Euro, ein Kaffee 1,80 Euro, ein Cappuccino 2,20 Euro.

Das sind günstige Preise.
Jeder muss sich das leisten können, ich lebe nicht von Kaffee und Kuchen. Jeder soll einen Kaffee trinken und auch noch locker ein Buch kaufen können.

Wo backen Sie denn den Kuchen?
[Sie zeigt auf den Bereich hinter dem Tresen.] Hier, da auf dem Regal hinter der Kasse steht unser kleiner Ofen. Wenn Sie morgens herkommen, duftet es nach frisch gebackenem Kuchen.

Sie sind ein Kiezbuchladen, wer ist Ihre Kundschaft?
Gut situierte, belesene Menschen, die meistens schon in die Jahre gekommen sind.

Was heißt das genauer?
Die Hauptkundschaft ist zwischen 70 und 90 plus Jahren alt. Das ist prima, aber natürlich mache ich mir meine Gedanken. Denn wer folgt diesen Kunden nach? Kinderbuchlesungen, die ich auch anbiete, laufen zum Beispiel etwas schwierig. Allerdings wandelt sich Lichterfelde-Ost gerade. Dadurch, dass es nicht so hip wie Wohngebiete in Kreuzberg oder Mitte ist, ist die Gegend hier bezahlbar. Es ziehen langsam aber sicher immer mehr junge Familien hierher. Und das spüre ich, die kommen auch in den Laden. Ich hoffe, dass es sich herumspricht: Wir haben sehr gute Kinderbücher, viele werden von unabhängigen Verlagen verlegt.

Vorhin waren zwei Jugendliche hier: Sie schauten sich um, gingen aber, ohne etwas zu kaufen. Ist ihr Laden auch für junge Leute aufgestellt?
Ja, auf jeden Fall. Wir haben ein ausgewähltes Angebot, zum Beispiel Romance-Titel. Allerdings kaufen wir die Reihen nicht meterweise ein, das können wir allein aus Platzgründen nicht. Wir haben das, was die Testleserinnen für gut befunden haben. Natürlich ist die Thalia-Filiale, die Anfang des Jahres im LIO eröffnet hat, da eine Konkurrenz: Da stehen dreimal so viele Liebesromane wie bei mir. Die haben einfach viel mehr Platz. Und sie bieten ein anonymes Einkaufen an – es spricht Sie niemand an.

Da haben Sie eine ganz andere Philosophie.
Genau, hier wird gesprochen, man kennt sich, die Kunden freuen sich über Empfehlungen. Aber wer in Ruhe stöbern will, der kann das natürlich tun, wir drängen uns nicht auf. Und das Sortiment, das wir anbieten, wird eine Filiale einer großen Kette nie haben.

Haben Sie wieder eine Bücher-Reise in Planung?
Nein, aber ich veranstalte Lesungen. Die nächste findet am 31. August statt, eine musikalische Lesung mit der Schriftstellerin Marion Tauschwitz. Es geht um die begnadete Lyrikerin Selma Merbaum, die mit 18 im KZ umgekommen ist. Gott sei Dank sind 57 ihrer Gedichte überliefert. Sie sind im Buch „Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben“ erschienen. Begleitet wird die Lesung vom Jugend-Kammermusikorchester Berlin-Brandenburg, die Journalistin Shelly Kupferberg moderiert den Abend. Es wird eine wunderschöne Mischung aus Gespräch, Biografie, Lyrik und Musik. Die Veranstaltung findet in der Evangelischen Pauluskirche in Lichterfelde am Hindenburgdamm statt.

Hätten Sie zum Schluss noch einen Lesetipp für die Ferien?
Wie wäre es mit Harry Martinsons „Schwärmer und Schnaken“? Es ist im kleinen Guggolz Verlag erschienen und ist eine Erzählungssammlung: Es geht um einen Tropfen Wasser, um Blumen, den Himmel und viele, viele kleine Dinge – es ist geschrieben in einem Deutsch zum Niederknien. Es ist eine Freude, dieses Buch zu lesen.

  • Die Lesung: Die Veranstaltung „Selma Merbaum – Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben“ findet am Samstag, 31. August, um 18 Uhr in der Pauluskirche, Hindenburgdamm 101a in 12203 Berlin, statt. Der Eintritt kostet 10 Euro, Karten sind in der Buchhandlung Friebe erhältlich (Telefon 772 32 30, E-Mail buchhandlungfriebe@t-online.de).
  • Welche Nachbarin, welchen Nachbarn sollen wir vorstellen? Senden Sie Ihre Vorschläge gerne an boris.buchholz@tagesspiegel.de.