Kultur
Eine Straße im Wandel
Veröffentlicht am 02.11.2021 von Sigrid Kneist
Manchmal können Ausstellungen auch helfen, alltäglich Phänomene oder Beobachtungen richtig einzuordnen. Die Besucherin der Schau „Handel und Wandel“ im Schöneberg-Museum an der Hauptstraße betrachtet eingehend ein Foto der Fassade der Potsdamer Straße 149 mitten im einstigen Rotlichtviertel. Dort gab’s die Tanz-Bier-Bar Romantica. Das Haus ist lange schon abgerissen. Den Schriftzug aber kennt die Frau. Er hat überlebt und hängt nun im Restaurant Romantica in der Akazienstraße, ganz bei ihr in der Nachbarschaft. Immer wieder stößt sie in der Ausstellung auf Vertrautes und bisher nicht Gekanntes. „Hast du unser Haus gesehen“, ruft sie ihrer Tochter zu. Diese interessiert sich nicht für die Bilder an der Wand, sondern hat es sich in einem Sessel gemütlich gemacht und studiert lieber die Ansichten im ausliegenden Katalog.
Dem Straßenzug Potsdamer Straße/Hauptstraße zwischen Landwehrkanal und Innsbrucker Platz ist diese sehenswerte Ausstellung gewidmet, in der man viel Stadtgeschichtliches erfährt. Der Schöneberger Fotograf André Kirchner hat Fassaden, Schaufenster und Eingänge der Straße fotografiert. Die Ausstellung kontrastiert die Bilder mit historischen Ansichten der Gebäude. Texttafeln erläutern den Wandel, den die einstige bedeutende Geschäftsstraße in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat. Da ist zum einen das bereits erwähnte Amüsier- und Rotlichtviertel rund um die Ecke Potsdamer Straße/Bülowstraße. Dort gab es einst viele Bordelle und Stundenhotels. Das Bermuda-Dreieck wurde das Viertel lange genannt. Viele Bars, Bordelle und Stundenhotels sind verschwunden. Straßenprostitution gibt es aber weiterhin, sie hat sich aber verschoben.
Stetige Veränderung. Diese macht den Straßenzug aus. Ein markantes Gebäude war beispielsweise einst die Hauptstraße 23/24 an der Ecke Akazienstraße. Das große fünfgeschossige Wohnhaus mit Turm und dem eleganten Café Schöneberg samt Außenterrasse wurde im Krieg schwer zerstört. Heute befindet sich dort eine Commerzbankfiliale, das Gebäude ist schon seit geraumer Zeit eingerüstet.
Der Tagesspiegel und die Potsdamer Straße. Im nördlichen Bereich zwischen Pohl- und Lützowstraße – schon jenseits der Bezirksgrenze auf Tiergartener Gebiet – war bis vor zwölf Jahren auch der Tagesspiegel zu Hause, bis 2003 zudem die dazugehörige Mercator-Druckerei. Der Tagesspiegel-Schriftzug war weit auf dem Dach des Hauses zu sehen. Der Gebäudekomplex, in dem einst Verlag, Redaktion und Druckerei untergebracht waren, heißt heute Mercator-Höfe. Ein Foto Kirchners zeigt die heutige Einfahrt, durch die früher große Lastwagen mit den schweren Papierrollen für die Rotation fuhren und sich manches Mal oben an der Hofeinfahrt Kratzer holten. Diese war nämlich nicht besonders hoch. In den Höfen hat inzwischen die Kunst Einzug gehalten, haben sich Galerien, Boutiquen und Designer niedergelassen. Dies setzt sich auch in der Umgebung fort.
Ein neues Gesicht der Straße. Viele Traditionsgeschäfte der Potsdamer Straße verschwanden, Schaufenster spielen nicht mehr die Rolle von einst. „Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, genauer hinzusehen, jetzt, da die Schaufenster durch die schwarzen Löcher des unsichtbaren Handels im Internet langsam ausgesogen und entleert werden. Und man wird in den Fotografien bemerken, dass schon am Vorabend der Pandemie eine verkehrsreiche Geschäftsstraße wie die Potsdamer Straße oder die Hauptstraße sich bereits stark verändert hatte, ja streckenweise bereits wie ausgehöhlt wirkte“, schreibt André Kirchner im Katalog.
- „Handel und Wandel“, Schöneberg Museum, Hauptstraße 40/42, Samstag bis Donnerstag 14 bis 18 Uhr, Freitag 9 bis 14 Uhr. Bis 10. April 2022, museen-tempelhof-schoeneberg.de. Kirchners Galerie, das Atelier Kirchner, liegt übrigens ganz in der Nähe der Hauptstraße in der Grunewaldstraße 15.