Nachbarschaft
Veröffentlicht am 23.10.2018 von Judith Langowski
Julia von Randow steht umgeben von Flipcharts in einem hellen, offenen Klassenraum des Lette-Vereins am Schöneberger Viktoria-Luise-Platz. Das Haus hat Geschichte: Seit 1902 lernen hier junge Menschen verschiedene Berufe von Modedesignern, die am Set von „Babylon Berlin“ mitwirkten, bis zu Metallographen, die Werkstoffe in ihrem Innersten untersuchen. Der Architekt des Schulgebäudes, Alfred Messel, erbaute es im Sinne der Reformpädagogie, natürliches Licht durchflutet die Räume, das soll die Schulzeit angenehmer machen.
Statt den üblichen hastig gekritzelten Notizen dröger Teammeetings laufen und hüpfen Strichmännchen über die weißen Seiten der Flipcharts, kurze Stichpunkte erläutern plakativ das Wichtigste. Die Bilder sind dynamisch, denn Bewegung, ob auf der Flipchart oder durch den Klassenraum ist essentiell für gutes Lernen, sagt von Randow. Sie ist Grafikdesignerin und stellvertretende Schulleiterin des Lette-Vereins. Damals, als sie selber zur Schule ging, gefiel es ihr nicht, wie Unterricht gemacht wurde. Sie wollte es anders machen, so, dass man tatsächlich etwas lernt und es verinnerlicht – mit allen Sinnen. Seit zwei Jahren baut von Randow die Visualisierungstechnik in den Unterricht mit ein, sie schult auch Lehrkräfte und Kolleg*innen an der Schule in der „Kulturtechnik“, wie sie die Arbeit mit Markern und mit Post-Ist auf der Flipchart nennt.
Konkret geht es bei der Visualisierung darum, Symbole und Figuren für den Lernprozess zu nutzen, um die Lernerfahrung bildlich zu verankern. Nicht linear, sondern vernetzt, so funktioniert das Gehirn ja auch. In Bildern wird ein Problem nachgestellt und durch die Verbindungen zwischen den Elementen gelöst. „Tastentippen hinterlässt keine Spuren im Gehirn“, sagt von Randow und zieht anschaulich und geräuschvoll den dicken Marker über das Papier. „Mit allen Sinnen“ soll das Gelernte verankert werden.
Digitale Mittel sollen trotzdem weiter benutzt werden, sagt von Randow, ihr iPad unterstützt sie bei der Visualisierung. Die Lette-Schüler*innen lernen mittlerweile am Computer oder mit anderen digitalen Mitteln. Von Randow möchte die analoge Visualisierung nutzen, um die Schüler*innen „aus der Trance“ zu reißen, in der man sich – ob beim Lernen oder bei der Arbeit – selber vor dem Bildschirm oft versetzt. Kleine Bewegungen müssten in den Unterricht integriert werden, um das Gehirn zu aktivieren.
Im Gegenteil zur Powerpointpräsentation wird nicht einfach etwas an die Wand projiziert, sondern es entstehen gemeinsam im Unterricht mit vorgefertigten Karten und Bildern, die magnetisch an der Flipchart befestigt werden. Die Flipchart kann aufgerollt und aufbewahrt werden, oder abfotografiert, um das Gelernte zu dokumentieren.
„Mit Kunst hat das nichts zu tun“, sagt von Randow. „Ich kann nicht zeichnen“, sei keine Ausrede mehr. Der Begriff Kulturtechnik ist ihr wichtig, denn es bedeutet, dass sie sich jeder erlernen kann: den Stil, in dem Strichmännchen und Symbole gezeichnet werden, die Schriftart und selbst, wo Schatten und Rahmen gesetzt werden, um das Schriftliche zu verdeutlichen. Sie selber hat einen Workshop zu Visualisierungstechnik besucht und gibt das Erlernte jetzt weiter. Der Lette-Verein bietet einen Kurs für Lehrkräfte an, denn Visualisierung wird nicht im schulpraktischem Seminar unterrichtet. Von Randow sieht, dass es funktioniert, denn die Flipcharts, die normalerweise alle in diesem Raum stünden, seien meist im ganzen Haus verteilt und kämen in den Klassenräumen zum Einsatz.
Die „Lette-Akademie“ bietet im Programm Lern- und Lehrcoaching einen Visualisierungskurs an. Mehr Infos hier: lette-akademie.de.
Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: leute-s.kneist@tagesspiegel.de