Nachbarschaft
Veröffentlicht am 21.01.2020 von Sigrid Kneist
Doris Kaplan, im Alter von zehn Jahren am 4. April 1942 gemeinsam mit ihrer Mutter ins Warschauer Ghetto deportiert, ab Herbst 1942 verliert sich jede Spur.
Ein letzter Gruß. „Liebes Tante Thechen! Hab recht herzlichen Dank, dass Du so sehr nett zu mir (uns) warst. Gruß u. Kuss, D“. Das sind die letzten Zeilen, die Doris Kaplan aus dem Deportationszug ins Warschauer Ghetto an ihre Tante schreibt. Und ihre Mutter Elisabeth Kaplan setzt darunter: „Geliebte Therese, bis hier hat uns Gott gebracht. Glänzend organisiert, liebevoll betreut, sind gesund. Ziel ungewiss.“ Zu finden ist diese Karte in der biografischen Mappe für Doris Kaplan in der Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg. Die so positiven Worte der Mutter deuten die Ausstellungsmacher als eine eventuell verschlüsselte Nachricht an ihre Schwester.
Schikanen ausgesetzt. Zwei Jahre zuvor haben die Eltern Ernst und Elisabeth Kaplan ihre Tochter zu befreundeten Familien in Berlin-Schöneberg geschickt, damit das Kind dort die Schule besuchen kann. Die Familie wohnte damals in Guben, heute an der polnischen Grenze gelegen. Dort war Doris zu starken Drangsalierungen ausgesetzt. Ihre Eltern bemühen sich derweil um Ausreise.
Sonntagsbriefe. Die Neunjährige schreibt regelmäßig an ihre Eltern nach Hause. Einige der Briefe – teils auf Kinderbriefpapier mit bunten Zeichnungen oder liebevoll verziert – sind in der Ausstellung erhalten. Doris schreibt stets nur sonntags, um das Geld für das Porto zu sparen, und fordert auch ihre Eltern auf, nur einmal die Woche zu schreiben. Ihrem Vater wurde seine Berufstätigkeit als Arzt verboten. Als er im November 1941 zur Zwangsarbeit als „Krankenbehandler“ für die jüdischen Arbeitskräfte beim Autobahnbau bei Brätz in der Nähe von Guben eingesetzt wird, freut sich Doris für ihn, dass er wieder als Arzt arbeiten darf. Wenig später stirbt er an Fleckfieber. Doris wird es nicht erlaubt, zur Beerdigung zu fahren.
„Ich habe mir in meinem Kalender alle Sonntage mit einer Nummer verzeichnet, da weiß ich immer, vor wie viel Wochen Papi gestorben ist“, heißt es in einem Brief an ihre Mutter. Zu der Zeit hoffen die Mutter und Doris noch, nach Schweden zu einem Onkel ausreisen zu können. Und für den Fall dass es nach Polen geht, will Doris sich vorbereiten. Im kalten Winter, im Januar 1942 schreibt sie ihrer Mutter: „Ich ziehe mir deshalb keine Stiefel an, weil ich mir sage ‚ich will mich abhärten für Polen‘.“
Nach Osten. Vor Ostern 1942 wird klar, dass die Deportation bevorsteht. Doris muss ihren letzten Schultag beenden, nach dem regulären Unterricht bringt die Tante das Mädchen zum Zug nach Guben. Es ist Gründonnerstag, der 2. April 1942. Am Karsamstag, den 4. April, schreiben Doris und ihre Mutter die letzten Zeilen aus dem Zug, der Richtung Warschauer Ghetto rollt. Vom Herbst an gelten sie dort als verschollen. wirwarennachbarn.de
Text: Sigrid Kneist, Foto: Wir waren Nachbarn