Nachbarschaft
Veröffentlicht am 25.08.2020 von Sigrid Kneist
Jörg Steinert, Geschäftsführer des Lesben- und Schwulenverbandes Berlin-Brandenburg, begeisterter Jakobsweg-Pilger und Autor des am Montag erschienenen Buchs „Pilgerwahnsinn: Warum der Jakobsweg süchtig macht. Notizen von unterwegs“.
Wenn Sie diese Zeilen lesen, ist Jörg Steinert schon wieder unterwegs. Auf dem Jakobsweg. Wo sonst? Heute Vormittag startete er am Brandenburger Tor. Und zwar auf der „Via Imperii“, der klassischen Route, die von Stettin über Berlin zum Wallfahrtsort Santiago de Compostela im Nordwesten Spaniens führt. In den Tagen vorher hatte er noch einiges in Sachen Jakobsweg zu erledigen. Am vergangenen Donnerstag war er dabei, als Stromnetz Berlin am S-Bahnhof Priesterweg – welch passender Stationsname für einen Pilgerweg – und an der Attilastraße die ersten Stromkästen präsentierte, die mit der typischen gleben Jakobsmuschel auf blauem Grund den Weg weisen. Von dort sind es übrigens noch 2961 Kilometer bis Santiago. Dass in Tempelhof-Schöneberg jetzt der Jakobsweg ausgeschildert wird, geht auf Steinerts Initiative zurück.
Stempel und Buch. Am Montagnachmittag wurde an der Schöneberger Königin-Luise-Gedächtniskirche die erste offizielle Station eröffnet, an der sich Pilger in Berlin einen von der Jakobus-Gesellschaft anerkannten Pilgerstempel holen können. Dafür wurde ein eigenes Motiv entwickelt – abgebildet ist die achteckige evangelische Kirche mit einem Regenbogen. Als klares Zeichen dafür, dass queeres Leben in Schöneberg selbstverständlich ist. Lange vorbei sind die Zeiten, dass Pilgern nur eine Angelegenheit der Katholiken ist. Und am Abend stellte der 38-jährige Steinert sein Buch „Pilgerwahnsinn: Warum der Jakobsweg süchtig macht. Notizen von unterwegs“ (Verlagsgruppe Patmos, 22 Euro) vor.
Proteste gegen den Papst organisiert. 2015 machte sich Steinert, der seit vielen Jahren Geschäftsführer beim Berlin-Brandenburger Lesben- und Schwulenverband ist, dort aber zum Ende des Jahres aufhört und sich vehement für queere Rechte einsetzt, erstmals auf den Jakobsweg – und wurde promp vom „Pilgervirus“ ergriffen. Für seine Freunde und Bekannten aus der queeren Community sei es schon ein wenig verwunderlich gewesen, dass er so für das Pilgern auf dem Jakobsweg, für dieses kirchliche Ritual, entbrannte, sagt er. Die katholische Kirche ist ja auch nicht gerade dafür bekannt, gleichgeschlechtlichen Lebensweisen gegenüber aufgeschlossen zu sein. Steinert gehörte 2011 zu den Aktivisten, die die Proteste gegen den damaligen Berlin-Besuch von Papst Benedikt XVI. organisiert hatten. „Ich gehe auch nicht aus religiösen Gründen, sondern aus spirituellen“, sagt Steinert, der selber Protestant ist.
Kurioser Start. Die erste Tour wollte Steinert nicht alleine unternehmen. Er fand eine organisierte Reisegruppe. Es sollte auch noch nicht direkt nach Santiago gehen – sondern nur eine Strecke von rund 150 Kilometer im Baskenland. „Meine erste Pilgerreise war trotz eines holprigen Starts unbeschreiblich schön und fühlte sich wie das Paradies auf Erden an“, schreibt er in seinem Buch.
Was hatte es mit diesem holprigen Start auf sich? Vor der gemeinsamen Tour sollten die Pilgernovizen in einem Haus am Startpunkt Hondarribia sich kennen lernen, Bindungen zu einander entwickeln. Bonding ist hier das Schlagwort. Der Reiseleiter, der Steinert bereits am Anfang etwas verwirrt erschien, forderte die Teilnehmer auf, von ihren Lebenskrisen zu berichten. Schon das erschien Steinert zu intim. Es wurde aber auch physisch sehr eng, viel enger als Steinert es wollte. Bei einer Übung mussten sich Paare bilden und sich abwechselnd auf dem Fußboden liegend aufeinander legen. Das machte Steinert zwar noch mit. Aber es reichte ihm.
Im Morgengrauen. Am kommenden Morgen schlich er sich um sechs Uhr aus dem Haus und machte sich alleine auf seinen Jakobsweg an der Atlantikküste entlang nach Bilbao. Erst bei seiner zweiten Tour kam er bis nach Santiago de Compostela. Selbst die vielen Hindernisse und Schwierigkeiten, mit denen er bei diesem Weg zu kämpfen hatte, trübten seine entdeckte Leidenschaft für das Pilgern nicht.
Viele tausend Kilometer. Insgesamt war Steinert schon elf Mal auf verschiedenen Routen unterwegs. Corona-bedingt geht es in diesem Jahr nicht auf die Strecke in Frankreich/Spanien. Steinert und seine Mitpilger, zu denen auch die Berliner Frauenrechtlerin, Anwältin und Mitbegründerin der liberalen Ibn Rushd-Goethe Moschee, Seyran Ates, gehört, wollen in den kommenden vier Wochen bis Nürnberg wandern. Die erste Etappe führt sie über die Yorckbrücken, Südkreuz, Priesterweg, Marienfelde heraus nach Brandenburg.
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