Nachbarschaft

Veröffentlicht am 22.12.2020 von Sigrid Kneist

Juni Hoppe, Vikarin in der evangelischen Apostel-Paulus-Kirchengemeinde, Schöneberg

In diesem Jahr verläuft Corona-bedingt bei vielen Menschen das ganze Leben in anderen Bahnen. Welche Bedeutung bekommt da Weihnachten? Die weltweite Pandemie hat bei den allermeisten ihre Vorhaben für das Jahr 2020 über den Haufen geworden – und die Weihnachtspläne ebenfalls. Die unterschiedlichsten Weihnachtsrituale, die doch fest zum Jahresrhythmus der jeweiligen Haushalte gehören, werden auf einmal infrage gestellt oder sind schlichtweg nicht mehr erlaubt. Unter schmerzhaften Restriktionen überlegt nun jede*r neu, wie die Weihnachtszeit aussehen kann. Vielleicht gewinnt Weihnachten dieses Jahr gerade da an Bedeutung, wo es Individuen den Freiraum ermöglicht, trotz der schwierigen Umstände neu zu entdecken, was ihnen zu Weihnachten eigentlich wichtig ist.

In den vergangenen Wochen wurden die Corona-Maßnahmen vor allem in Hinblick auf das Weihnachtsfest diskutiert, dass Feiern – wenn auch in kleinerem Kreis – möglich sein sollen. Werden damit die Erwartungen an das gemeinsame Fest nicht überladen? In der öffentlichen Diskussion ist mir die überwiegende Darstellung von Weihnachten als christliches Mehrgenerationen-Familienevent aufgefallen – klassischerweise mit Gottesdienstbesuch und anschließender Weihnachtsgans zu Hause mit den Großeltern neben den Kerzen am Weihnachtsbaum und den Geschenken für die Enkel. Obwohl das für einen Großteil der Gesellschaft in Deutschland zutreffen mag, wird Weihnachten anlässlich der Geburt Jesu Christi ja in den unterschiedlichsten Konstellationen gefeiert – oder eben auch nicht. Die letzten Tage vor dem Jahreswechsel bieten eine wertvolle Gelegenheit zur Ruhe zu kommen, das Jahr Revue passieren zu lassen und mit den Liebsten Zeit zu verbringen. Dabei können nicht alle auf einen großen Kreis der Familie oder Freunde zurückgreifen. Und einigen Haushalten wird dieses Jahr ganz und gar nicht nach Feiern zumute sein. Ich halte es für wichtig, bei der Diskussion um Weihnachten Stereotype zu vermeiden und auch diejenigen im Blick zu behalten, die alternative Formate wahrnehmen möchten oder müssen.

Was könnte die Kirche unternehmen, was macht sie bereits, um auch Angehörige anderer Religionen an Weihnachten – jenseits von Konsum und arbeitsfreien Tagen – teilhaben zu lassen? Von den zahlreichen Möglichkeiten, christliche Feste mit Zugehörigen anderer Religionen teilen und gemeinsam gestalten zu können, möchte ich beispielhaft die Kunst und die Musik nennen. Ich empfinde sie als äußerst verbindende Kräfte, über die Grenzen von Religionen hinweg. In meiner Gemeinde in Schöneberg haben wir jetzt zu Weihnachten etwa mit dem jüdischen Klarinettisten Nur Ben Shalom und seinem Nimrod-Ensemble einen Gottesdienst für Heiligabend aufgenommen. Wir sind als Apostel-Paulus-Kirche auch Teil der Kooperation „Grenzgänge“, die künstlerische und theologische Zugänge zum interreligiösen Dialog miteinander verknüpft. Der Kirchenkreis Tempelhof-Schöneberg ist außerdem Initiator der Konzertserie „Lebensmelodien“, deren nächste Veranstaltung in der Synagoge Pestalozzistraße stattfinden wird. Bei interreligiösen Veranstaltungen und Projekten finde ich zentral, sich nicht mit „einseitiger Teilhabe“ zu begnügen (d.h., sich von der Frage leiten zu lassen: Wie können die anderen an meiner Tradition teilhaben?), sondern eine Begegnung auf Augenhöhe anzustreben. Das bedeutet in Hinblick auf das Weihnachtsfest auch, dass ich es nicht bei einer „offenen Einladung“ belassen möchte, sondern auch umgekehrt anstrebe, ein ehrliches Interesse und eine Teilhabe an den großen Festen anderer Religionen zu entwickeln.

Pickepackevolle Kirchen am Heiligen Abend wird es in diesem Jahr nicht geben können. Die Gemeinden müssen kreativ sein, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Welche Ideen finden Sie besonders gelungen? Ich habe großen Respekt davor, wie sich viele Kirchengemeinden dieses Jahr auf die unklaren und unplanbaren Umstände eingelassen haben, indem sie Optionen A, B, C vorbereitet haben. Analog mit Hygienekonzept, ganz digital oder etwas dazwischen – besonders beim Krippenspiel war Kreativität gefragt. In unserem Kirchenkreis konnte trotz der Pandemiebedingungen mit über 30 Kindern und Jugendlichen ein Weihnachtsmusical aufgenommen werden. Die Apostel-Paulus-Kirche wird Heiligabend und an den Weihnachtsfeiertagen von 10 bis 20 Uhr geöffnet sein. Das Konzept der „offenen Kirche“ finde ich besonders gelungen, da es Besucher*innen erlaubt zu einer Zeit ihrer Wahl die Kirche zu besuchen, eine Kerze anzuzünden und den Kirchraum als Ort der Hoffnung und des Trostes zu nutzen. Das vorproduzierte Weihnachtsprogramm wird dort alle halbe Stunde auf der Leinwand laufen, und am Ausgang stehen weihnachtliche Überraschungstüten zur Mitnahme bereit.

Die Pandemie hat auch für Sie als angehende Pfarrerin viele Herausforderungen gebracht. Welche Erfahrungen möchten Sie in die Post-Corona-Zeit mitnehmen und vielleicht auch weiterführen? Ich bin großer Fan der digitalen Formate, die wir dieses Jahr umgesetzt haben. Digital können sich Interessierte von überall her dazuschalten und diejenigen, die sonst nicht zu unseren Angeboten kommen konnten oder wollten, sind nun mit nur einem Klick dabei. Audio- und Video-Aufzeichnungen erlauben auch zeitliche Flexibilität, da sie individuell auf Abruf angeschaut werden können. Durch Livestreams und Übertragungen im Fernsehen erreichten bestimmte Veranstaltungen in der Apostel-Paulus-Kirche ein breiteres, internationales Publikum. Ich war erstaunt, wie gut selbst im Gemeindeleben eine virtuelle Community entwickelt werden kann. Dass einige virtuelle Konzepte auch in der Post-Corona-Zeit als wertvoll erachtet und weitergeführt werden, kann ich mir gut vorstellen. In diesem Jahr spielte die Seelsorge eine noch größere Rolle als sonst – im Internet, am Telefon, oder auch vor Ort in der Kirche und durch persönliche Besuche. Das intensive Beratungs- und Begleitungsangebot von Kirche wird auch in einer Post-Corona-Zeit zentral bleiben.

Wie werden Sie persönlich Weihnachten feiern? Ich werde tatsächlich Weihnachten am Bildschirm verbringen – und freue mich drauf! Nebst Gottesdiensten habe ich Zoom-Calls mit Familie und Freunden vor, um auf diese Art trotz Lockdown die Feiertage gemeinschaftlich zu verbringen. Weihnachten ist für mich vor allem eine besondere Gelegenheit, Gott Dank zu sagen. Daher halte ich mir üblicherweise immer Weihnachten und zum Jahreswechsel Zeitfenster frei für ein stilles Gebet. Das ist ein Ritual, das ich auch in Corona-Zeiten fortführen kann.

Foto: privat

Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: leute-s.kneist@tagesspiegel.de

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