Nachbarschaft

Veröffentlicht am 18.05.2021 von Sigrid Kneist

Malte Wirtz, Regisseur, Friedenau.

Ungewöhnliche Zeiten, ungewöhnliche Formate. Das Jahr der Pandemie hat das Leben in einem noch nie gekannten Maß weltweit geändert. Vor allem auch das Zusammenleben. Direkte menschliche Kontakte fielen in großem Umfang weg und wurden vielfach durch digitale Zusammenkünfte ersetzt. Besprechungen, Sitzungen und Treffen fanden nicht mehr an einem realen Ort, sondern plötzlich im digitalen Raum statt. Das soziale Leben – bei der Arbeit, oft auch im Privaten – eine immerwährende Videokonferenz. Das  brachte den in Friedenau lebenden Regisseur und Filmemacher Malte Wirtz auf eine Idee. Warum nicht einmal einen ganzen Film über eine Videokonferenzplattform produzieren? Bei einem Kursus auf einem Filmfestival präsentierte er zunächst kleinere so entstandene  Improvisationsszenen, die beim Publikum gut ankamen. Wirtz fasste den Entschluss, dieses Filmkonzept auszubauen.

Eine Berliner Geschichte. „Digital Life – Ein Leben in pandemischen Zuständen“ heißt der Film, der jetzt komplett über die Videoplattform Zoom entstanden ist. Sie erzählt einen für Berlin sehr typischen Stoff: Ein Mann und eine Frau suchen in dieser Pandemiezeit für ihre WG einen Mitbewohner. Ein Amerikaner zieht ein; es gibt Beziehungsverwicklungen. Und ihr Nachbar, der auch ihr Vermieter ist, kündigt auf einmal die Wohnung. So wie es wahrscheinlich jederzeit in Berlin passieren kann.

Wie wurde gearbeitet? Seit dem Spätherbst setzte Wirtz gemeinsam mit den Schauspielerinnen und Schauspielern das Projekt um, das wie der Testlauf nach wie vor von der Improvisation lebt. Man traf sich im digitalen Raum, dort wurde gearbeitet. Nähe gab es nur über das Internet. Die Darsteller waren jeweils in ihren eigenen Wohnungen und mit ihren Smartphones, Tablets oder Laptops ihre eigenen Kameraleute. Manchmal wenn die Internetverbindung schlecht war, froren die Bilder ein, brach der Ton weg, das gehörte für den Filmemacher unbedingt dazu, wurde Teil des Films. Auch Szenen unterwegs in Straßen oder Parks in wackligen Bildern entstanden auf diese Weise. Regieanweisungen schickte Wirtz beispielsweise über Kurznachrichten – so schickte er manchmal einen Schauspieler zum Rauchen raus, damit die Szene zwischen den anderen intensiver wurde.

So geht’s weiter. Wirtz hat jetzt rund zehn Stunden Videokonferenzmaterial, das er nun zu einem Film schneiden, montieren muss. Diese Arbeit wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen. „Sicher ist, dass der Film länger wird als die sonst üblichen 90 Minuten“, sagt Wirtz. Er ist überzeugt davon, dass er ein Publikum dafür finden wird. Für sein innovatives Zoom-Projekt hat er ein „Zogma“-Filmmanifest verfasst. Einer der Kernsätze: „Die Regeln des digitalen Raums unterscheiden sich von jenen des physischen Raums.“

Andere Filme. Wirtz hat vor dem Zoomprojekt auch ein anderes ungewöhnliches Filmformat ausprobiert. Der Stummfilm reizte ihn, die besondere Ästhetik, um eine  Handlung auch ohne gesprochene Worte, nur mit wenigen Texttafeln  zu transportieren. Erste Versuche dazu unternahm er bereits während des Studiums mit einer Super-8-Kamera, die keinen Ton aufzeichnen konnte. Die dabei gemachten Erfahrungen machten Lust auf mehr. Er startete ein Stummspielfilmprojekt, suchte Schauspielerinnen und Schauspieler, die sich dafür interessierten.

Auch ohne Ton ein moderner Film. „Das Schauspiel ist größer“, sagt Wirtz. Mimik, Gestik spielen eine stärkere Rolle, dürfen aber auch nicht übertrieben werden. Er wollte keinen Abklatsch der alten klassischen Stummfilme produzieren, bei denen die Schauspieler oft übertrieben dramatisch agieren und gerade die Mimik  extrem einsetzen. Wirtz sagt, dass die Form des Stummfilms gleichzeitig die Möglichkeit biete, viel internationaler als beim Tonfilm zu sein; da man eben nicht gezwungen sei, den Film vor allem über die Sprache zu verstehen. Aber wie auch einst sind einige Texttafeln schon notwendig, um den Film zu verstehen. Schon bei den alten Stummfilmen vor rund 100 Jahren spielte die begleitende Musik eine wesentlich Rolle. In der Regel hatten die Stummfilmkinos einen begleitenden Pianisten.

Kinostart im September. „Geschlechterkrise“ heißt Wirtz‘ Stummfilm, der ebenfalls stark auf Improvisation setzt und an vielen Orten in Berlin gedreht wurde. Es geht um Beziehungen, Rollenklischees, Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern. Der Film hat – begleitet von Livemusik – am 18. September im Kino Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz Premiere. babylonberlin.eu

  • Foto: Privat
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