Nachbarschaft
Veröffentlicht am 03.01.2023 von Sigrid Kneist

Sie engagieren sich gegen Leerstand: die Mitglieder der Nachbarschaftsinitiative Friedenau Heidrun Birke (von links), Sabine Küppersbusch, Ingrid Schipper, Gunhild Reuter und Monika Krusenbaum.
Der große Jugendstilbau, der an der Ecke Odenwald-/Stubenrauchstraße unbewohnt und vernachlässigt steht, hat etwas Gespenstisches an sich. Manche nennen das Gebäude das „Geisterhaus von Friedenau“. Passend dazu ist in einem der Fenster noch ein Abbild von Munchs „Der Schrei“ zu sehen. Seit Jahren schon wohnt niemand mehr in dem Haus. Die Eigentümerin lässt das Haus verfallen.
Über den Leerstand und dass an dieser Ecke nichts passierte, hat sich Ingrid Schipper schon lange geärgert, als sie 2016 den Anstoß für eine Nachbarschafts-Initiative gibt. Bei einem Treffen findet die pensionierte Lehrerin schnell engagierte Mitstreiter. Mitstreiterinnen vor allem, Frauen, die im Kiez leben oder auch etwas weiter entfernt, viele von ihnen bereits wie Schipper im Ruhestand.
Sie alle empört, dass ein so prächtiges Gebäude nicht genutzt wird. Von Anfang an ist Sabine Küppersbusch klar, dass sie sich engagieren wird: „Da muss was passieren. Es ist ein Jammer, dass das Haus leer steht.“ Heidrun Birke kommt aus dem Nachbarbezirk Charlottenburg-Wilmersdorf und kennt von dort auch eine andere Immobilie der Eigentümerin, die ebenfalls leer steht.
Die Göttin der Blüte. In Friedenau will die Initiative aber nicht nur das Düstere des Hauses beschwören, sondern ebenso das schöne. Sie nennt das Haus „Flora“ – nach der Göttin der Blüte, die das große Schmuckornament an der Fassade zeigt. Bei Google Maps wird das Haus sogar als „Geisterhaus Flora“ auf der Karte angepinnt.
Endlich Zuversicht. An diesem Vormittag haben sich Schipper und vier weitere Frauen vor dem Haus versammelt. Nach mehr als sechs Jahren, die sie in der Nachbarschaftsinitiative für das Wiederbeleben des Hauses kämpfen, sind sie jetzt wohlgemut, dass endlich etwas passiert. Die Senatsbauverwaltung hat beschlossen, dass sie hier in einem Modellprojekt und einem weiteren in Wedding ein Treuhänderverfahren in Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Bezirk umsetzt. Der Bezirk Tempelhof-Schöneberg hatte das bisher unter anderem deshalb nicht realisieren wollen, weil er ein finanzielles Risiko scheute. „Ich habe zu Anfang nicht gedacht, dass der Weg so lang dauern wird“, sagt Schipper.
Lange Erfahrung. Die Aktivitäten für das Haus waren und sind vor allem kreativ. „Das haben wir schon in den siebziger Jahren gelernt“, sagt Monika Krusenbaum. „Bei Aktionen gegen den Vietnamkrieg oder den Paragrafen 218.“ Die Frauen haben nicht nur Ideen für Protestformen, sie haben auch Expertise in der Gruppe. Krusenbaum beispielsweise ist Architektin, Gunhild Reuter ebenfalls. Sie hat zudem als Bausachverständige gearbeitet und schätzt die Substanz des Hauses als gut ein, so dass sich das Engagement für das Haus auf jeden Fall lohnt.
Das soll nun passieren. Laut Stadtentwicklungsstadträtin Angelika Schöttler (SPD) wird der Bezirk jetzt mit Unterstützung des Senats das Verfahren realisieren. „Die Schäden an dem Objekt wurden und werden gutachterlich ermittelt“, sagt Schöttler. Die Eigentümerin werde angehört. Anschließend ergehe „eine wohnungsaufsichtsrechtliche Instandsetzungsanordnung“. Wenn die Eigentümerin dann nicht entsprechend handelt, könne ein Treuhänder eingesetzt werden. Im Gespräch dafür ist nach Angaben der Senatsbauverwaltung die Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land.
Die Schwierigkeiten. „Die Einsetzung eines Treuhänders ist verfahrenstechnisch nicht ganz einfach, weil durch die dadurch ausgelösten Maßnahmen nicht unerheblich in die Eigentumsrechte der Eigentümer eingegriffen wird“, teilte ein Sprecher der Senatsverwaltung mit. Dabei geht es um die Kosten der notwendigen Sanierung, beispielsweise der Elektro-, Sanitär- und Fassadenarbeiten. Diese durch den Treuhänder veranlassten Kosten werden als Last im Grundbuch eingetragen, so dass im Falle einer Zwangsversteigerung den Bezirken kein Ausfall entsteht. Auch bisher schon wurden vom Bezirk festgelegte Zwangsgelder wegen des Verstoßes gegen das Zweckentfremdungsgesetz im Grundbuch abgesichert, wie der zuständige Stadtrat Matthias Steuckardt (CDU) sagt.
Langer Prozess. Selbst wenn das Treuhänderverfahren jetzt angestoßen ist, wollen die Frauen bei ihren Aktionen nicht nachlassen. „Wir machen weiter, bis Bauarbeiten zu sehen sind“, sagt Sabine Küppersbusch. Denn der gesamte Prozess kann lange dauern. In Steglitz-Zehlendorf beispielsweise hatte 2019 Stadtentwicklungsstadtrat Michael Karnetzki (SPD) angekündigt, bei einem Geisterhaus in seinem Bezirk das Treuhandmodell anzuwenden. Dazu ist es nie gekommen; dem Bezirk alleine fehlten die Möglichkeiten, das finanzielle Risiko bei einem möglichen Rechtsstreit war für den Bezirk zu hoch. Im Fall des Friedenauer Hauses gibt es jetzt die Unterstützung der Senatsfinanzverwaltung.
Bunt und laut. Dass die Protestformen bis zum Schluss vielfältig bleiben, da ist sich Ingrid Schipper sicher. Die ehemalige Lehrerin kann jede Menge fantasievolle Aktionen in den vergangenen Jahren aufzählen: An einem Frauentag trat das „antikapitalistische Jodelduo Esels Alptraum“ vor der Flora auf; ein anderer Frauentag stand unter dem Motto „Frauen hauen auf die Pauke“, ein Leistungskurs des Paul-Natorp-Gymnasiums zeigte am Bauzaun in einer Werkschau Fotoarbeiten zum Haus, die Frauen luden zu Kaffee und Kuchen ins Café Flora, in einem Jahr zeigten sich hinter den Fenstern auf einmal Frauenporträts, in der Weihnachtszeit gab es einen Adventskalender. Und im vergangenen Dezember wurden Flora-Kekse gebacken: „Leerstand? Nein, danke! Sweethome? Ja, bitte!“ – Foto: David Heerde
- Die Initiative betreibt einen Blog: leerstand-friedenau.blogspot.com
- Mehr zum Thema Leerstand lesen Sie in der Rubrik Namen und Neues
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